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    illustration of the building of Noah’s Ark

    Neuvermessung der Arbeit

    Die jahrhundertelange Suche nach einer menschlicheren Wirtschaftsordnung.

    von Peter Mommsen

    Dienstag, 15. Juli 2025

    Verfügbare Sprachen: español, English

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    Nachdem ich im Sommer 1990 die achte Klasse beendet hatte, befand mein Vater, es sei an der Zeit für mich zu lernen, wie man arbeitet. Schon von klein auf hatte ich ihn in seine Druckerei im Keller begleitet und begeistert bei der Arbeit an der Offsetdruckmaschine geholfen. Aber jetzt, sagte er, sei ich bereit für mehr. Mein Lehrmeister sollte Ullu Keiderling werden, ein Familienfreund mit weißem Bart, blauer Arbeitsschürze und einem ausgeprägten Sinn für Pünktlichkeit.

    Es war eigentlich keine richtige „Lehre“ – ich durfte einfach bei Ullu, der ein erfahrener Handwerker war, mitarbeiten, wann immer ich konnte. Er zeigte mir seinen Arbeitsplatz: eine Ecke in einer großen Werkstatt, wo er Geh-Hilfen für Menschen mit Behinderung herstellte. In Serie gefertigte Teile mussten nach genauen Vorgaben zusammengebaut werden. Das Produkt bestand aus Rädern, Laufrollen, Splinten, Federstiften, Führungsstangen sowie gepolsterten Stützen für Rumpf und Gliedmaßen.

    An mehreren Nachmittagen in der Woche machte mich Ullu mit seinen verschiedenen handwerklichen Fertigkeiten vertraut. In seiner Buchbinderei brachte er mir bei, wie man Buchlagen von Hand näht, beschädigte Seiten mit japanischem Seidenpapier restauriert und einen festen Einband ganz von Grund auf fertigt – mit Buchleinen, Heftbändern, handgeschöpften Vorsatzpapieren und heißem Leim. Manchmal gingen wir in seine Schusterwerkstatt, wo uns der charakteristische Duft von frischem Leder empfing. Neben der Schuhreparatur fertigten wir – oder besser gesagt: fertigte er – kunstvoll geprägte Gürtel, Ledereinbände für Bibeln und seine ganz besondere Erfindung: schwarze Hosenträger aus Rindsleder mit Messingschnallen, die jeder Punk gerne getragen hätte.

    illustration of the building of Noah’s Ark

    Der Bau der Arche Noah, Miniatur aus dem Bedford Book of Hours, ca. 1423 (Ausschnitt). Alle Grafiken von Wikimedia Images (public domain).

    Als Lehrmeister war Ullu anspruchsvoll, aber geduldig und warmherzig, wenn auch wortkarg. (Später erfuhr ich, dass einige Jahre zuvor zwei seiner Kinder gestorben waren und er häufig an Depressionen litt.) Seine Arbeitsweise blieb stets ruhig und überlegt, auch wenn sich die Arbeit vor ihm auftürmte. Er bestand darauf, dass die Werkzeuge stets an ihren vorgesehenen Platz an der Werkzeugwand gehängt wurden, dass jedes heruntergefallene Kleinteil aufgehoben und der Boden regelmäßig gefegt wurde. Für ihn lag der Sinn der Arbeit in der Hingabe zum Handwerk, nicht in der Steigerung der Effizienz.

    Rückblickend wird mir klar, dass ein Großteil von Ullus Arbeit repetitiv und manchmal zermürbend langweilig war – wie ich selbst einige Jahre später erfahren sollte, als ich eine Stelle in dieser Werkstatt annahm. Dennoch haben sich mir bestimmte Momente aus diesem Sommer tief eingeprägt – Augenblicke, in denen nichts Besonderes geschah und mich trotzdem plötzlich eine Faszination packte. Ich beobachtete ihn manchmal mit einem Hauch von Ehrfurcht, wie er mit gesenktem Kopf ruhig und konzentriert arbeitete. Ich wusste: Hier ist ein Mann, der sein Handwerk versteht. Das wohl meinen Philosophen und Theologen wenn sie über die „Würde der Arbeit“ reden.

    Diese Würde sollten wir uns aktuell vor Augen halten, da viele KI-Forscher vorhersagen, dass der wirtschaftliche Wert der Arbeit dramatisch sinken wird, und Maschinen zunehmend Menschen ersetzen werden. Dies wird nach Ansicht einiger Forscher die Machtverhältnisse noch weiter zugunsten der Kapitalgeber verschieben, die sich diese Maschinen leisten können. In einem Beitrag auf dem Blog Less Wrong hieß es kürzlich: „KI, die menschliche Arbeit ersetzt, wird die relative Bedeutung menschlicher gegenüber nicht-menschlicher Produktionsfaktoren verschieben, wodurch die gesellschaftlichen Anreize schwinden, sich um Menschen zu kümmern – während bestehende Machtstrukturen sich weiter verfestigen und an Wirksamkeit gewinnen.“ Wenn dies eintrifft, könnte ein Großteil unserer Arbeit am Ende nicht mehr viel wert sein.

    Trotzdem deutet Ullus Beispiel darauf hin, dass es etwas an der Arbeit gibt, das nichts mit einem bezifferbaren Nutzen zu tun hat. In gut vollbrachter Arbeit liegt Würde. Es ist eine Disziplin, die uns menschlicher macht.

    Eine der bekanntesten Würdigungen der Arbeit stammt aus Martin Luther Kings Predigt „Die drei Dimensionen eines vollkommenen Lebens“, die er in verschiedenen Versionen mehrfach hielt und dann 1963 in seinem Buch Kraft zum Lieben veröffentlichte. King betonte, dass diese Würde weder vom Verdienst noch vom sozialen Status unserer Arbeit abhängt, sondern vielmehr von unserem „unermüdlichen Streben nach Exzellenz im Lebenswerk“, selbst wenn die Arbeit eintönig und einfach ist:

    Nicht alle Menschen sind zu spezialisierten oder akademischen Tätigkeiten berufen; noch weniger erreichen Einzigartiges in Kunst und Wissenschaft; viele sind dazu berufen, in Fabriken, auf Feldern und auf Straßen zu arbeiten. Aber keine Arbeit ist unbedeutend. Jede Arbeit, die der Menschheit dient, trägt Würde und Bedeutung in sich und verdient es, exzellent verrichtet zu werden. Wenn ein Mann dazu berufen ist, Straßenkehrer zu sein, sollte er Straßen kehren, so wie Michelangelo gemalt, Beethoven komponiert oder Shakespeare Gedichte geschrieben hat. Er sollte die Straßen so gut kehren, dass alle himmlischen und irdischen Heerscharen innehalten und sagen: „Hier lebte ein großer Straßenkehrer, der seine Arbeit gut gemacht hat.“

    Seitdem tauchte Kings Straßenkehrer unzählige Male in Motivationsbüchern und PowerPoint-Präsentationen über Management, Erziehung und Karriere auf. King predigt seinen oft aus der Arbeiterschicht stammenden Zuhörern „Selbstannahme“ und ruft sie dazu auf, „sich selbst auf gesunde Weise zu lieben“. Seiner Ansicht nach bietet Arbeit einen Weg zu Selbstwert und Erfüllung.

    Doch hier drängt sich ein beunruhigender Zweifel auf: Entspricht dies tatsächlich der heutigen Arbeitswirklichkeit? Die meisten werden heute nicht für ihre „exzellente Arbeit“ gewürdigt, sondern vielmehr als austauschbare „Ressource “ verwaltet, abhängig von den Launen der Arbeitgeber und den Marktkräften. Kings Predigt mag den Straßenreinigern zwar ein Gefühl von Selbstwert versprechen, doch das nützt ihnen wenig, wenn sie von ihrem Lohn keine Familie ernähren können, ihre Arbeitsbedingungen gefährlich sind oder sie durch Roboter ersetzt werden. Angesichts dieser Realität kann sein Rat wie eine Aufforderung klingen, sich mit Ausbeutung abzufinden. Die Würde der Arbeit wird dann zum Werkzeug der Arbeitgeber, um Arbeitskräfte fügsam zu machen, sodass sie ihr kostbarstes Gut – ihre „4.000 Wochen“ Leben, so Oliver Burkeman – den Besitzenden opfern.

    Vielleicht trifft diese Kritik auf Selbsthilfe im Allgemeinen zu, in Kings Fall verfehlt es jedoch den Kern seiner Botschaft. Das wird jedem klar, der auch nur oberflächlich mit Kings Rolle in der Bürgerrechtsbewegung und der „Kampagne der Armen“ (Poor People’s Campaign) vertraut ist.

    illustration of the building of Noah’s Ark

    King eröffnet seine Predigt „Drei Dimensionen“ mit der Offenbarung des Johannes und ruft zu einer neuen Wirtschaftsordnung auf, in der die Menschen nicht vom Geld beherrscht werden. (In seinem ursprünglichen Manuskript von Kraft zum Lieben forderte er eine „tiefgreifende Veränderung“ des „Kapitalismus“, doch sein Verleger strich diese Zeile – vermutlich aus Sorge vor antikommunistischen Reaktionen.) King preist die Vision der Offenbarung vom Neuen Jerusalem am Ende der Zeit und stellt diese himmlische Stadt dem modernen Amerika gegenüber, das von einem „praktischen Materialismus beherrscht wird, dem Dinge oft wichtiger sind als Werte“. Das Neue Jerusalem, so King, verkörpert die „ideale Menschheit“. Danach sollen wir streben. In dieser neuen Zivilisation werden „die Einheit der Menschheit und die tätige geschwisterliche Sorge um das Wohl der anderen“ zur lebendigen Wirklichkeit:

    Gott gebe, dass auch wir von dieser Vision ergriffen werden und mit unermüdlicher Leidenschaft nach jener Stadt des vollendeten Lebens streben, deren Länge, Breite und Höhe gleich sind [Offb 21,39]. Nur in dieser Stadt können wir zu unserem wahren Wesen finden. Nur wenn wir diese Vollendung erreichen, können wir wahrhaft Kinder Gottes werden.

    Diese Vision eines „vollendeten Lebens“ reicht weit darüber hinaus, für arbeitnehmerfreundliche Politik einzutreten. Auch wenn King es nicht direkt so nennt, würde seine Logik letztendlich die fundamentale Beziehung der modernen Arbeitswelt verwandeln: das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer – oder, wie es früher unverblümt heißt, zwischen „Dienstherr“ und „Bedienstetem“. Das Neue Jerusalem der „idealen Menschheit“ zielt auf mehr als nur einen gerechten Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Interessen von Arbeitern und Unternehmern. Stattdessen sollen in dieser Stadt beide Seiten zu Geschwistern werden, die nicht nur geistliche, sondern auch praktische und wirtschaftliche Gemeinschaft miteinander leben.

    Zu lebzeiten warfen Kings Gegner ihm vor, Marxist zu sein, woraufhin er oft erwiderte, er habe Marx im Theologie-studium zwar eingehend, aber kritisch gelesen. Der Kommunismus, so schrieb er in Kraft zum Lieben, sei „kalter Atheismus im Gewand des Materialismus“ und böte daher „keinen Raum für Gott oder Christus“. Doch interessanterweise findet sich Kings Vision des Neuen Jerusalems bereits beim jungen Marx der 1840er Jahre. Als radikaler Mittzwanziger hatte Marx den „wissenschaftlichen Sozialismus“, der heute mit seinem Namen verbunden wird, noch nicht vollständig entwickelt und war noch von der utopischen Romantik seiner Lehrer geprägt. Dieser idealistische Impuls tritt am deutlichsten in seinen frühen Schriften über die Arbeit hervor.

    Obwohl das Denken des jungen Marx zu komplex ist, um es hier im Detail nachzuzeich-nen, lohnt es sich, einige Einsichten über die Entfremdung der Arbeit hervorzuheben. „Die Arbeit“, schreibt er in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844, ist das „Wesen des Menschen“. Die Arbeit ermöglicht es uns, voll und ganz Mensch zu werden, denn sie ist „das sich bewährende Wesen des Menschen“. Was aber geschieht, wenn eine Arbeitnehmerin ihr „Wesen“ in Arbeit investiert, die für Geld geleistet wird? Ihre Arbeit ist in diesem Fall nicht die eines freien Menschen, keine „freie Tätigkeit“, sondern wird vielmehr auf eine Ware reduziert, die auf dem Arbeitsmarkt gekauft und verkauft wird. Im Marx’schen Sinne ist ihre Arbeit entfremdet.

    Marx widmete sein Leben dem Ziel, die Arbeiter aus diesem Zustand der Entfremdung zu befreien. Trotz seiner Feindseligkeit gegenüber dem Christentum hat dieses Ziel theologische Wurzeln, wie John Hughes in seinem 2007 erschienenen Buch The End of Work darlegt. Schließlich kann Marx die Entfremdung der Arbeit in der modernen Welt nur am Maßstab einer anderen Welt verurteilen, in der die Arbeit nicht entfremdet ist. In dieser Welt würden alle frei arbeiten, da der Mensch „erst wahrhaft produziert in der Freiheit [vom physischen Bedürfnis].“ Wir würden nicht nur arbeiten um zu überleben, sondern künstlerisch mit überschäumender Kreativität Gegenstände „nach den Gesetzen der Schönheit formen“. Arbeit wäre nicht mehr eine Last, sondern eine Freude.

    Für Marx ist diese andere Welt eine zukünftige Möglichkeit, nicht etwas, das jemals existiert hatte. Er entwirft das Bild einer künftigen Epoche. Woher stammt diese Idee? Hughes argumentiert, dass sie – indirekt – aus der Bibel kommt. Bezeichnenderweise beschreibt Marx die nicht entfremdete Arbeit in derselben Weise, wie die christliche Tradition Gottes Schöpfungswerk darstellt.

    Für Marx war die Emanzipation der Arbeit ein zukünftiges Ziel, das unausweichlich realisiert würde. Die Befreiung träte in jenem Moment ein, in dem der Kapitalismus an seinen Widersprüchen zerbricht und dem Kommunismus weichen muss:

    In der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, regelt die Gesellschaft die allgemeine Produktion . . . und macht mir eben dadurch möglich . . . heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.

    Ein faszinierendes Gedankenexperiment – besonders wenn man gerne jagt oder fischt. Und für den jungen Marx ändert die Emanzipation der Arbeit alles. Sie ist der Schlüssel zu einer wirklich humanen Gesellschaft, in der das Privateigentum, die Wurzel der „menschlichen Selbstentfremdung“, wegfällt. Dann, so glaubte er, würde das grimmige Hobbes’sche Leben des gegenseitigen Antagonismus der Gemeinschaft und Solidarität weichen: „[Der Kommunismus] ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen . . . Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte.“ Hier ist die Verwandtschaft mit Kings „Stadt des vollständigen Lebens“, in der wir „unser wahres Wesen erreichen“, unübersehbar.

    In der Praxis nahm der marxistische Kommunismus freilich einen ganz anderen Verlauf. Als die bolschewistischen Revolutionäre versuchten, das Rätsel der Geschichte gewaltsam zu lösen, zeigte sich rasch, welchen Terror die erzwungene Emanzipation der Arbeit mit vorgehaltener Waffe hervorbrachte. Der Traum von der Freiheit wurde zu einer Rechtfertigung für Massenmord und entmenschlichende Tyrannei. Das zwanzigste Jahrhundert legt nahe, dass die Gesetze der Geschichte – sofern es sie überhaupt gibt – entgegen Marx' Überzeugung nicht den Niedergang des Kapitalismus voraussagen, sondern vielmehr die totalitäre Natur des politischen Kommunismus.

    Im jahr 1919, während die Nachrichten über den grausamen Vormarsch des Bolschewismus allmählich nach Deutschland durchsickerten, fasste der Gründungsredakteur dieser Zeitschrift den Entschluss, ein Leben in Freiheit und Gemeinschaft aufzubauen, geprägt von nicht entfremdender Arbeit. Eberhard Arnold, ein evangelischer Theologe und Verleger aus Berlin, war durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs in eine tiefe Gewissenskrise geraten. Er gab den Kirchen durch ihre Verstrickung in Militarismus und soziale Ungerechtigkeit eine Mitschuld am Krieg. Umgeben von einem breiten Freundeskreis – darunter konservative Politiker, Generäle, Pietisten, Sozialreformer und Anarchisten – suchte er nach Antworten in den „tiefsten Wurzeln des Christentums“. Für ihn bedeutete dies, Jesus neu zu entdecken, besonders seine Lehren in der Bergpredigt, die bei wörtlicher Auslegung Gewaltlosigkeit, Feindesliebe, Besitzlosigkeit und bedingungsloses Teilen fordert.

    Im Laufe dieses turbulenten Jahres, in dem vor seinem Stadthaus Straßenkämpfe tobten, empfand Arnold eine unerträgliche Spannung zwischen seinem Streben, die Lehren Jesu zu leben, und seinem Dasein als bürgerlicher Intellektueller. Während er die engen persönlichen Beziehungen zu seinen Freunden im Establishment pflegte, bekannte er sich zum Pazifismus und Sozialismus – allerdings in einer dezidiert christlichen Ausprägung. Er hatte Marxismus studiert und war durch politische Debatten mit Kommunisten in Kontakt gekommen, mit denen er über die Verkürzung ihrer Hinrichtungslisten für den Fall einer erfolgreichen Revolution (die ausblieb) verhandelte. Doch ihre Ziele und Methoden lehnte er ab und betonte, „christlicher Kommunismus“ sei freiwillig und gewaltfrei: „Wir fühlen uns glücklich, an keine anderen Waffen als an die des liebenden Geistes zu glauben, wie er in Jesus Christus Tat geworden ist.“ Das Neue Jerusalem sollte nicht durch Zwang entstehen, sondern durch geistliche Erweckung. Wie schon Ruskin und Morris träumte Arnold von einem Netzwerk aus ländlichen Genossenschaften, Stadtgemeinschaften, Handwerkszünften, sozialen Missionen und „alten Klöstern und Diakonie-Anstalten“.

    Um seine Überzeugungen zu verwirklichen, gründete Arnold 1920 gemeinsam mit Gleichgesinnten eine kleine christliche Gemeinschaft im hessischen Sannerz. Sie wollten sich durch Landwirtschaft, ein Kinderheim und einen Verlag selbst tragen. Mit Freunden gründete er eine vierzehntägige Zeitschrift für „gelebtes Christentum“. Sowohl die Gemeinschaft als auch die Zeitschrift trugen den Namen Neuwerk.

    Was war dieses neue Werk? In einem in der Zeitschrift veröffentlichten Manifest beschrieb Arnold sie in pfingstlich klingenden Worten:

    Wir haben nur ein Kampfmittel der Verdorbenheit der heutigen Zustände gegenüber. Diese Waffe des Geistes ist die aufbauende Arbeit der Gemeinschaft der Liebe. Wir kennen keine sentimentale Liebe, keine Liebe ohne die Arbeit. Wir kennen ebenso wenig eine Hingebung in praktischer Arbeit, die nicht jeden Tag die aus dem Geist kommende seelische Fühlung unter den Arbeitenden beweist und zum Ausdruck bringt. Die Liebe der Arbeit, die Arbeit der Liebe, ist die Sache des Geistes. Die Liebe des Geistes ist die Arbeit.

    Im Gegensatz zum jungen Marx steht für Arnold die Liebe an erster Stelle, als Frucht der geistlichen Erneuerung. Daraus ergibt sich die Emanzipation der Arbeit. Für beide Visionäre bedeutete diese Emanzipation jedoch, dass die Vorherrschaft des Geldes über die zwischenmenschlichen Beziehungen durch Gütergemeinschaft überwunden wird. In einem Brief an seine Unterstützer erläuterte Arnold die Ziele des Neuwerks und berief sich auf das Vorbild der Gütergemeinschaft der Urgemeinde aus der Apostelgeschichte:

    In innerer Selbstverständlichkeit ergab sich eine brüderliche Gütergemeinschaft, die alles miteinander teilt, weil ein anderes Verhältnis zueinander hier nicht mehr möglich ist. Es handelt sich um eine Gemeinwirtschaft, die nicht auf irgendwelchen Verpflichtungen oder Forderungen beruht, sondern vielmehr auf dem freien urchristlichen Geist des gemeinsamen Lebens. Nicht nur Grund und Boden ist als Gemeingut gedacht, sondern ebenso sind alle Betriebs- und Produktionsmittel, und alle sonstigen Werte Gemeineigentum.

    In einer solchen „gemeinschaftlichen Wirtschaft“ verschwinden die Statusunterschiede zwischen den verschiedenen Arten von Arbeit, und jede Arbeit erhält ihre volle Würde:

    Der übliche Einwand gegen eine solche „Utopie“, dass keiner ohne Zwang die niedrigsten Arbeiten in Angriff nehmen würde, beruht auf den falschen Voraussetzungen des jetzigen entarteten Menschentums. Heute fehlt gewiss den meisten Menschen jener Geist, der uns die geringste und äußerlichste Arbeit zu beglückender Freude macht. Und doch kennen wir ihn alle. Wenn wir einen geliebten Menschen zu pflegen oder einfach zu versorgen haben, verschwindet der Unterschied zwischen ehrender und erniedrigender, sauberer und schmutziger Arbeit. Die Liebe hat ihn aufgehoben und macht uns alles gut, was wir für den geliebten Menschen tun.

    Wie sein Biograf Markus Baum festhält, wandte Arnold diese Worte auch auf sich selbst an. Während er den Verlag leitete und als Seelsorger fungierte, spaltete er Brennholz und wendete Kompost, wobei er die „humanisierende Wirkung“ der täglichen körperlichen Arbeit feststellte.

    Im Laufe der 1920er Jahre, als die Sannerzer Gemeinde auf rund 70 Personen anwuchs, warfen Kritiker ihr oft vor, sich auf der Suche nach religiöser Reinheit aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Arnold entgegnete, es gehe nicht darum, eine geistliche Elite zu sammeln. Er wehrte sich gegen die Vorstellung, Gruppen wie seine könnten sich völlig aus der „weltweiten kapitalistischen Wirtschaft“ lösen, und lehnte jeden Anspruch auf moralisches Heldentum ab: „Keiner von uns glaubt, dass wir zu Besserem oder Religiöserem fähig sind als andere Christen.“

    illustration of the building of Noah’s Ark

    Vielmehr wollte er ein Leben praktischer Nachfolge Christi aufbauen, das allen offen stand – obdachlosen Kriegsveteranen ebenso wie alleinerziehenden Müttern und frustrierten Jugendlichen. Ihr Experiment würde zwar klein und unvollkommen bleiben, doch als lebendiger Beweis dienen, dass ein anderes Leben möglich ist. „Der Glaube verlangt . . . dass wir aus Liebe alles riskieren und wagen, um neue, praktische Wege zu finden, die zur Brüderlichkeit führen, zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft, zum Teilen aller Arbeit und Güter, damit das Privateigentum und die kapitalistische Schichtung der Menschen durch Geld überwunden werden.“ Dieses gemeinschaftliche Leben, in dem „Arbeit Liebe ist und Liebe Arbeit“, sollte ein Abbild des Neuen Jerusalem sein.

    Die von Eberhard Arnold gegründete Gemeinschaft und Zeitschrift bestehen bis heute fort. Nach ihrer Flucht aus NS-Deutschland im Jahr 1937 gelangte sie über England und Südamerika in die Vereinigten Staaten. Die Zeitschrift halten Sie gerade in Händen, und die Gemeinschaft ist heute als Bruderhof bekannt. Ullu, der sich noch aus seiner Kindheit auf dem deutschen Bruderhof an Arnold erinnerte, hatte einen Großteil dieser Geschichte miterlebt, als er mir auf einem Bruderhof in Amerika beibrachte, Bücher zu binden und Gürtel herzustellen.

    Rückblickend erinnert mich Ullus Arbeit erstaunlich an die Vision des jungen Marx von der nicht entfremdeten Arbeit. Er wechselte frei zwischen Werkstatt, Buchbinden und Schuhreparatur, so wie Marx von einem Tagesablauf mit Jagen, Fischen und Literaturkritik geträumt hatte. Heute verstehe ich: Diese Freiheit entsprang der „gemeinschaftlichen Wirtschaft“, die Arnold und seine Sannerzer Freunde ins Leben gerufen hatten. Für Ullu war seine Arbeit keine bloße Erwerbstätigkeit. Als Bruderhof-Mitglied arbeitete er ohne Bezahlung und auch wenn er der Gemeinschaft gegenüber verantwortlich war, hatte er keinem Vorgesetzten. Wenn Besucher ihn und seine Weggefährten gelegentlich fragten, ob sie denn auch mal Urlaub nähmen, antworteten sie: „Urlaub wovon?“ Ihre Arbeit war ihre Liebe, und ihre Liebe war ihre Arbeit. „Arbeiten heißt beten“ – so lautet ein altes benediktinisches Motto: laborare est orare. Auch wenn dies nicht für jede Arbeit gelten mag, auf Ullus Arbeit traf es zu.

    an elderly man holding a baby

    Ullu Keiderling mit einem Enkelkind im Jahr 1995. Foto zur Verfügung gestellt von Familie Keiderling.

    Im Laufe mehrerer Juniwochen errichtete Ullu am Eingang des Gemeindegeländes eine kreisförmige Steinmauer rund um eine Linde. Es war ein schweißtreibender Sommer im Hudson Valley. Der Kreis sollte etwa acht Meter Durchmesser haben und ich sollte die Natursteine herbeischaffen, die Ullu dann einpasste. Als die Mauer fast fertig war, winkte er mich heran und deutete auf eine verborgene Nische im Mauerwerk. Das sei für die Zeitkapsel, sagte er. Wir sammelten eine Kiste mit Zeitzeugnissen jenes Jahres, verpackten sie luftdicht und mauerten sie in der verborgenen Kammer für einen künftigen Archäologen ein. Dann meißelten wir „1920–1990“ in den Stein.

    Ullu arbeitete bis wenige Tage vor seinem Tod im Jahr 2014, und seine Steinmauer steht bis heute – die Zeitkapsel noch immer ihrer Entdeckung harrend. Natürlich wird auch sie nicht ewig bestehen. Ebenso wenig wie die von Arnold gegründete Gemeinschaft oder Zeitschrift (auch wenn ich hoffe, dass beiden noch eine lange Zukunft beschieden ist). Alle menschliche Arbeit, auch die „neue Arbeit“, vergeht letztlich, so das Buch Prediger. „Was hat ein Mensch davon, dass er sich abmüht unter der Sonne?“, heißt es dort düster. „Es [ist] alles eitel und ein Haschen nach Wind.“

    Von portrait of Peter Mommsen Peter Mommsen

    Peter Mommsen ist Mitglied des Bruderhofs, einer intentionalen Gemeinschaftsbewegung auf der Grundlage der Bergpredigt Jesu.

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