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    Empfehlungen der Redaktion: Air

    von Hendrikje Machate

    Freitag, 11. Juli 2025
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    Air | Roman | Christian Kracht | (Kiepenheuer&Witsch, 215 Seiten)

    Mit Air hat Christian Kracht einen Roman geschaffen, der sich zwischen unserer gegenwärtigen Realität und der Welt der Fantasie oder vielleicht eher der des Jenseitigen bewegt. Der Titel, der sowohl an die Flüchtigkeit des Seins als auch an künstliche Intelligenz erinnert, spiegelt die duale Natur des Werkes wider. Es klingt vielleicht auch das gleichnamige Stück von Bach dabei an, welches aufgrund seiner Popularität leider schon als abgenutzter Kitsch gelten kann. Dieses könnte auf eine weitere Bedeutungssebene verweisen, da „air“ in diesem Fall für „aria“, also Lied steht – etwas, was unstofflich ist, aber doch ist und wirkt.

    Zu Beginn dieses eher ungewöhnlichen Kracht-Romans lernt man Paul kennen, einen Schweizer Inneneinrichter, der in Stromness auf den schottischen Orkney-Inseln lebt – und somit in der für ihn Fremde. Er erhält einen Auftrag von der Designzeitschrift Kūki (wiederum das japanische Wort für „Luft“), das „perfekte Weiß“ für die Wände eines geheimen Rechenzentrums in Norwegen zu finden. Kurz nach seinem Eintreffen an seinem Arbeitsort löst eine Sonneneruption einen elektromagnetischen Sturm aus, der Paul in eine andere Welt katapultiert, obwohl man weiter rätseln darf, was ihm tatsächlich zugestoßen ist. In dieser neuen Realität begegnet er der neunjährigen quasi vollverwaisten Ildr, mit der er vor einem tyrannischen Herzog flieht und in einer eisigen Landschaft Zuflucht sucht. 

    Die Erzählung wechselt zwischen Pauls und später seinem Auftraggeber Cohens Erlebnissen in der modernen Welt und den Abenteuern des „Fremden“ in der mittelalterlich anmutenden Fantasie-Welt. Die Grenzen zwischen den beiden Erzählsträngen verschwimmen zunehmend.

    Kracht nutzt einen fragmentierten Erzählstil, der die Übergänge zwischen den Welten fließend gestaltet. Manchmal wirkt es fast so, als wären Teile herausgestrichen worden, wodurch scheinbar ungereimte Lücken entstehen, die einen zunächst irritieren können, aber auch Raum für eigene Reflexionen bieten. Die Sprache ist präzise und poetisch, mit Anspielungen auf Literatur, Philosophie und Kunst und strahlt dabei doch eine griffige Einfachheit aus.

    Die drei Buchstaben des Titels erinnern auch an die drei Dimensionen, welche im Roman thematisiert werden, in welchem gegen Ende hin alles immer „zweidimensionaler“ wird – ohne den dritten Buchstaben, erhielte man dann nur noch „AI“. Viele solcher Spielereien mit Symbolen und Bedeutungsebenen kann man anstellen. Ein starker symbolischer Überhang im Roman steht für kühle „Cleanness“, die mit warmem Grün, mit Leiden, Vergänglichkeit, Wachstum und Natürlichkeit in Kontrast gesetzt wird. Zwischen diesem Gegensatz lebt auch der Protagonist Paul, „der Fremde“, und fasst in sich die Spannung zwischen den beiden Sphären. Wie in einem Traum werden in der Fantasie-Welt Elemente aus unserer hochtechnisierten Welt wie „Antibiotika“ mit Archaischem wie „Pfeil und Bogen“ vermischt. Oft geht es um Entfernungen und Distanz zwischen dem einen oder anderen Ort, welche zurückgelegt werden aus unserer Sicht in einer Welt, in der virtuell gesehen jede einst unüberwindliche Distanz nur mehr einen Klick weit ist. Auch dies entspricht dem Spannungsfeld: Hochtechnisierte Moderne vs. mythisch-natürliche Welt. Der erste Satz – „Das Leben war voller Sorgen, aber nicht wirklich.“ – verheißt einen gewissen Überdruss und ein Leiden an Oberflächlichkeiten, mit denen der vermeintliche Magier Paul sich sehr gut auskennt.

    Der Roman hinterlässt bei all seiner Einfachheit mehr Fragen als Antworten und das macht letztlich gute Literatur aus.

     
    Von Hendrikje Margareta Machate Hendrikje Machate

    Hendrikje Margareta Machate studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte.

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