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    children's faces

    Geschwisterliche Sorge

    In der Gemeinschaft lernte ich, dass Pflege keine Einbahnstraße, sondern ein gegenseitiges Geschenk ist.

    von Maureen Swinger

    Freitag, 11. Juli 2025

    Verfügbare Sprachen: English

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    Die erste seniorin, die ich betreute, war meine eigene Großmutter Anni, die ich von klein auf verehrte. Als ich drei Jahre alt war, wurde mein jüngerer Bruder schwer krank. Während meine Eltern wochenlang mit ihm im Krankenhaus waren, fand ich Zuflucht bei Oma Anni. Sie stellte ein kleines Ausziehbett neben ihr großes Bett, auf dem ich schlief, aber erst nachdem unser abendliches Ritual vollzogen war. Sie las mir aus Johanna Spyris Heidi vor, gab mir ein Bettmümpfeli (eine kleine Süßigkeit) und sang mir dann vor: Kirchenlieder anstelle von gewöhnlichen Gutenachtliedern, manchmal leise begleitet mit ihrer Gitarre. Die Lieder waren auf Deutsch oder Schweizerdeutsch und ein Thema kehrte immer wieder: Jesus – Schönster Herr Jesu. Ich schlief ein, eingehüllt in ihren Segen.

    elderly person being pushed in a wheelchair by the beach

    Eine ältere Frau macht mithilfe von Familie und Pflegenden einen Strandausflug nahe dem Beech Grove Bruderhof in Kent, Großbritannien. Foto mit freundlicher Genehmigung des Bruderhof-Archivs.

    Als sie 90 wurde, erbot ich mich, nun meinerseits für sie zu sorgen. Ich war gerade Anfang 20 und obwohl wir seit Jahren nicht mehr unter einem Dach gelebt hatten, sah sie in mir noch immer ihr kleines Schweizer Mädchen. Ihre zunehmende Vergesslichkeit fiel nur manchmal auf, etwa als sie nachts zum ersten Mal das Licht anmachte, um zur Toilette zu gehen. Da sie sehr unsicher auf den Beinen war und sich weigerte, einen Rollator zu benutzen, schlief ich in ihrem Zimmer, um ihr sofort beistehen zu können. Als sie mich sah, huschte ein überraschtes, aber freudiges Lächeln über ihr Gesicht: „Ach richtig! Du übernachtest bei mir. Ganz wie in alten Zeiten!“ Wir gingen Arm in Arm den Flur entlang und zurück, dann bekam ich von ihr einen Gutenachtkuss.

    In der folgenden Nacht wurde ich durch vorsichtige Bewegungen im Dunkeln geweckt. Sie hatte ihren Morgenmantel übergeworfen und schlich zur Tür. Ich war sofort hellwach und auf den Beinen und sie wirkte etwas bestürzt: „Oh, ich wollte dich nicht wecken!“ Wir hatten eine sanfte Auseinandersetzung über den wahren Grund meiner Nachtwache. Von da an fand sie sich mit meiner nächtlichen Anwesenheit ab – mit der gleichen Würde, mit der sie, wie mir später bewusst wurde, allen Herausforderungen des Alterns begegnete.

    Für sie war jeder Tag ein Fest. Nie hörte ich ein böses oder kritisches Wort von ihr. Wir tranken Tee, lachten über die kleinen Dinge des Alltags und genossen oft einfach die stille Zeit zusammen. Sie starb so würdevoll wie sie gelebt hatte und schritt freudig über die Schwelle, um bei ihrem schönsten Herrn Jesu zu sein.

    a child with an older lady

    Die Autorin mit ihrer Großmutter Anni, als Kind. Fotos mit freundlicher Genehmigung von Maureen Swinger.

    Wie sehr wünsche ich mir, so würdevoll zu altern wie sie! Meiner Mutter wird das sicher gelingen, mir wahrscheinlich nicht. Wer mich einmal pflegt, wird sehr viel Geduld aufbringen müssen. Das erlebte ich mit der zweiten Seniorin, die ich gepflegt habe. Sie verabscheute es, auf andere angewiesen zu sein. Ich nenne sie hier Johanna. Für sie war ich nicht schnell genug und sah nie, was sie brauchte: In ihrem Zimmer war es entweder zu kalt oder zu heiß. „Warum ist meine Lieblingsdecke schon wieder in der Wäsche?“ „Müssen wir wirklich spazieren gehen? Weißt du nicht, dass man an zu viel frischer Luft sterben kann?“ Diese Erfahrung öffnete mir die Augen: Nicht jede Seniorin ist wie Oma Anni. Und sie öffnete mein Herz für die Erkenntnis, dass gerade diese schwierige alte Dame vielleicht noch mehr Liebe brauchte als andere. Jetzt, wo ich nicht mehr in meinen Zwanzigern bin und selbst einige chronische Gesundheitsprobleme habe, wünschte ich, ich hätte Johanna besser verstanden: ihre Würde, ihr Menschsein, ihre Ängste. Meine Großmutter fürchtete den Tod nicht; gelassen zählte sie die Tage bis zu ihrem Hinübergehen. Auch Johanna schien keine Angst vor dem Tod zu haben, aber gegen das Sterben selbst kämpfte sie mit jedem Atemzug – gegen den schleichenden Verlust ihrer Autonomie, ihrer Fähigkeiten und ihrer Präsenz in der Welt. Es muss zutiefst beängstigend gewesen sein.

    Altenpfleger zu sein kann auch Angst machen, besonders wenn es keine Pausen von dieser schwierigen und oft undankbaren Aufgabe gibt. Es ist schwer, seinen Lebensunterhalt mit der Pflege fremder Menschen zu verdienen: ängstliche oder gereizte Patienten, körperlich anstrengendes Heben und Umgang mit Körperflüssigkeiten. Und für all diese Anstrengungen erhält man vielleicht gerade mal den Mindestlohn.

    Aber wenn man rund um die Uhr ohne Unterstützung für einen Angehörigen sorgt, kommen noch zusätzliche Herausforderungen dazu – eine Mischung aus Liebe, Dankbarkeit, Trauer und vertauschten Rollen. Wie Sisyphus steht man jeden Morgen vor dem Berg. Und egal wie weit man den Felsen an einem Tag bergauf rollte, am nächsten geht es wieder von vorne los.

    Ich bin überzeugt: Altenpflege kann nicht dauerhaft von einer Familie, geschweige denn von Einzelpersonen geleistet werden. Wenn wir das göttliche Ebenbild in jedem Menschen – besonders in den Schwachen – achten wollen, müssen wir dies gemeinsam tun. Solange unsere Gesellschaft jedoch weder Pflegenden noch Pflegebedürftigen die verdiente Wertschätzung zollt, werden Familien weiter in einem täglichen Überlebenskampf stecken, Pflegeheime werden chronisch unterbesetzt bleiben und Pflegekräfte ausbrennen. Welche Alternativen bleiben uns, wenn die Gesellschaft hier versagt?

    Solange unsere Gesellschaft weder Pflegenden noch Pflegebedürftigen die verdiente Wertschätzung zollt, werden Familien weiter in einem täglichen Überlebenskampf stecken.

    Es sprechen gute Gründe für das Pflegegeld, insbesondere für Menschen, die ihre eigenen Angehörigen pflegen. Damit wird gewürdigt, dass die Pflege wirklich Arbeit ist, und mehr Familien könnten sich um ihre Angehörigen kümmern. Doch selbst wenn Familien finanziell unterstützt werden: Der wahre Wert dieser Fürsorge lässt sich nicht in Geld bemessen. Immer mehr Menschen haben keine Kinder, die sich im Alter um sie kümmern könnten. Ihnen fehlt jedes Netzwerk, das finanziell oder auf andere Weise für sie sorgt.

    Pflegemüdigkeit kann selbst dort auftreten, wo es Unterstützungsstrukturen gibt. In meiner Gemeinschaft, dem Bruderhof, gibt es ein tragfähiges Netzwerk. Wir leben generationenübergreifend zusammen und die meisten von uns übernehmen irgendwann die Pflege eines älteren Menschen. Apostelgeschichte 4 ist ein Grundpfeiler unserer Gemeinschaft: „Große Gnade war bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte.“ Vielleicht empfinden wir Gottes Gnade nicht immer so stark wie die ersten Apostel, aber wir vertrauen auf sie und tun alles dafür, dass niemand einsam oder vernachlässigt ist. Es bleibt eine Herausforderung, doch sie ist zu bewältigen; wir haben einander, um uns zu stützen. Wir haben versprochen, als Geschwister füreinander zu sorgen, und vertrauen darauf, dass auch für uns gesorgt wird.

    elderly ladies face

    Die Autorin mit ihrer Großmutter Anni, als Pflegende.

    In jeder Bruderhofgemeinschaft kümmert sich ein Team um die Bedürfnisse der Bewohner. Braucht jemand mehr Betreuung, wird gemeinsam überlegt, wer einspringen kann. Niemand ist überrascht, wenn eine solche Anfrage kommt; wir alle haben beim Eintritt versprochen, dort zu dienen, wo wir am nötigsten gebraucht werden. Wir lehnen nicht ab, nur weil wir schon andere Aufgaben haben. Wenn Menschen Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben sollen, müssen wir bereit sein, bei der Erwerbsarbeit zurückzustecken. Selbst wichtige Sachen wie das Plough Magazin müssen manchmal warten. (Bei uns gibt es keine persönlichen Gehälter, wir teilen alles, so entstehen nicht die Konflikte, die andere zwischen Beruf und Pflege eines Angehörigen erleben.)

    Unser erstes Ehejahr war nicht voller romantischer Abende und gemeinsamer Ausflüge. Wir lernten stattdessen, was eine Ehe wirklich ausmacht.

    Diese Art der Betreuung benötigt kein tiefes medizinisches Wissen; unser medizinisches Team schaut regelmäßig nach den Senioren und holt bei Bedarf Spezialisten hinzu. Die Pflegenden kümmern sich um die alltäglichen Aufgaben – all die kleinen Dinge, die manchmal unangenehm und oft etwas chaotisch sind. Oft aber auch schön.

    Es gibt Kirchen und Gemeinden, die Pflegenetzwerke aufbauen oder Familien in Vollzeitpflegesituationen unterstützen und entlasten. Aber auch sie haben das Problem begrenzter Ressourcen und wechselnder Verpflichtungen. Ich weiß nicht, wie dieses Modell in der Gesellschaft realisiert werden könnte, aber Veränderung entsteht durch Vorbilder, und viele gute Beispiele finden sich in Glaubensgemeinschaften.

    Jason und ich waren frisch verheiratet, als man uns bat, uns um Doug und Ruby zu kümmern. Trotz unserer anspruchsvollen Jobs und der Arbeit in der Jugendgruppe der Gemeinschaft und obwohl wir gerade erfahren hatten, dass wir unser erstes Kind erwarteten, nahmen wir die Aufgabe an. Ruby war meine Englischlehrerin und ihre Unterstützung und Inspiration bedeuteten mir noch immer sehr viel.

    Ein frisch vermähltes Paar und zwei 80-Jährige: Es gab ein paar Fehltritte, bis wir alle unseren Rhythmus fanden, aber eigentlich war es nicht so schwierig; es ging einfach darum, ihre Bedürfnisse an erste Stelle zu setzen.

    Beim ersten Ehejahr denkt man an romantische Abende und gemeinsame Ausflüge. So war es bei uns nicht. Wir lernten stattdessen, was eine Ehe wirklich ausmacht. Doug und Ruby überlegten bei allem zuerst, wie es dem anderen damit gehen würde. Wenn Ruby nicht schlafen konnte, las Doug ihr stundenlang aus Elizabeth Goudge-Romanen vor. Oft saßen sie einfach schweigend zusammen, Worte waren überflüssig. 63 Jahre Ehe, drei stillgeborene Kinder, drei lebende Kinder, zwei davon adoptiert. Trauer und Freude, ein Leben lang auf der Suche nach Glauben und Wahrheit – was gab es da noch zu sagen?

    elderly couple on a walk

    Doug und Ruby im Jahr 2004.

    Wir vier begannen und beschlossen jeden Tag mit einer Lesung und einem Gebet. Wir wussten nicht, dass es ihre letzten Monate waren. Ruby starb kurz darauf an einem Schlaganfall. Ihre Familie ließ uns an allen liebevollen Gesten teilhaben, als wir die Totenwache vorbereiteten, den Raum mit Blumen schmückten und Erinnerungen ehemaliger Schüler an den Wänden aufhängten.

    Doug überlebte sie um einige Monate. Er trauerte und litt, war manchmal schroff oder bestimmend in seinem Schmerz. Obwohl seine Familie in der Nähe wohnte, wollte er nicht, dass wir abends weggingen, also blieben wir bei ihm. Er sprach oft von Ruby und davon, wie sehr er sie vermisste, von den kleinen Dingen, die ihn täglich an ihre Abwesenheit erinnerten. Wir fühlten uns sehr jung und unzureichend, empfanden es aber als Ehre, ihm zuhören zu dürfen.

    Viele jahre später sind Doug und Ruby immer noch in meinem Herzen, zusammen mit den anderen, die wir seitdem pflegten. Einige waren einfacher zu pflegen als andere. Ich fand die körperliche Pflege einfacher als die Betreuung Demenzkranker. Es tut sehr weh zu sehen, wie ein lebensfroher Mensch verfällt, seine Lieben nicht mehr erkennt und um sich schlägt, nicht gegen Menschen, sondern gegen eine wachsende Leere.

    Ich denke an diese Erfahrungen, wenn ich Elfriede sehe. Sie strahlte immer etwas Königliches aus; als Kind fand ich sie schön und respekteinflößend. Sie war eine liebevolle Frau, obwohl sie mir manchmal unnahbar vorkam. Heute lebt sie mit fortgeschrittener Demenz und braucht ein ganzes Team junger Frauen, die ihr beim Waschen, Essen und Aufstehen helfen. Es ist keine einfache Aufgabe und das Team hat ein Rotationssystem, damit die Pflege gut ist und jeder Zeit zum Ausruhen hat.

    children being read a story

    Elfriede liest ihren jungen Freunden vor. 

    Sobald Elfriede jemanden erblickt, sagt sie: „Ich liebe dich“, und erwartet dieselben Worte zurück. Kommt man ihr nahe, zieht sie einen mit erstaunlicher Kraft an sich – für eine Umarmung oder einen schmatzenden Kuss. Ihre Augen funkeln noch immer, und ich glaube, sie erinnert sich an die Menschen, die sie früher liebevoll herumdirigiert hat.

    Eines Abends im Dezember kehrte meine jüngste Tochter nachdenklich vom Singen in einem örtlichen Pflegeheim zurück. Als ich fragte, was los sei, meinte sie: „Es gab keinen Weihnachtsschmuck in den Zimmern und ich konnte überhaupt nichts Festliches spüren. Unsere Lieder waren das einzige.“ Die Einsamkeit der Bewohner bewegte sie, und sie fragte sich, wo deren Familien sind.

    Am nächsten Tag begegnete ich Elfriede, begleitet von zwei ihrer treuen Pflegerinnen und wir umarmten uns herzlich. Unweigerlich fragte ich mich: Wird dies ihr letztes Weihnachten sein? Wie dem auch sei – sie genoss es in vollen Zügen und war überall unterwegs unter ihrer festlich roten Decke. Ihre Augen funkelten im Schein der Lichter, und sie sang Worte und Melodien, die sie noch nicht vergessen hatte.

     Sie weiß, was Liebe ist, ebenso wie ihre Pflegerinnen. Liebe zeigt sich in jedem Heben, in jedem Löffel Frühstück, in jedem erschöpften Tag nach unruhiger Nacht, in jedem überraschenden Lachen und in jeder stillen Träne.

    Von MaureenSwinger2 Maureen Swinger

    Maureen Swinger ist Redakteurin bei Plough und lebt auf dem Foxhill-Bruderhof in Walden, New York.

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