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Philosophische Reinigung
Mit Rose und Besen unterwegs in den Straßen Fribourgs.
von Michel Simonet
Freitag, 11. Juli 2025
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In neun Monaten wird er seinen Ruhestand antreten. So richtig scheint er sich noch nicht darauf zu freuen. Seit fast 40 Jahren fegt Michel Simonet Straßen im Schweizer Fribourg. Mit Plough-Redakteurin Katharina Thonhauser sprach der studierte Philosoph und gelernte Buchhalter, warum er sich dafür entschied, Straßen zu reinigen.
Plough: Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Michel Simonet: Um fünf Uhr stehe ich auf. Die Arbeit beginnt um sechs. Das Depot ist drei Kilometer von meinem Haus entfernt, dorthin gelange ich zumeist mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Bus.
Ich gehe entweder mit meinem Karren und Besen oder einem Straßensauger und reinige die Straßen in meiner Zone bis eine Viertel Stunde vor zwölf Uhr. Dann mache ich Pause bis 12:30 Uhr. Am Nachmittag arbeite ich bis 16 Uhr. Zurück zu Hause warten meine Kinder und meine Frau. Ich mache auch manchmal Sport, lese oder schreibe. Das ist mein Alltag. Von Montag bis Freitag.
Gehen Sie jeden Tag dieselbe Route?
Wir sind immer für die gleiche Zone verantwortlich. Die ersten 22 Jahre war ich im Bahnhofsviertel, im Handelszentrum, eingeteilt. Seit 17 Jahren bin ich in nun der in der Altstadt von Fribourg. Nicht jede Straße muss täglich gereinigt werden. Es gibt Straßen, die sehr schmutzig sind, und Straßen, da genügt es zweimal, dreimal pro Woche zu putzen.

Seit Jahren schmücken Rosen den Karren von Michel Simonet. Alle Fotos zur Verfügung gestellt mit freundlicher Genehmigung von Michel Simonet.
Heute habe ich 20 Kilometer zu Fuß zurück gelegt, das ist die Norm. Wenn ich an einem Tag nur 15 Kilometer geschafft habe, war ich „faul“ (er lacht). 25 Kilometer, dann war es ein Tag mit sehr viel Arbeit.
Gibt es Straßen, die Sie lieber haben als andere, die Sie schöner finden?
Es gibt Straßen und Plätze, die grüner sind als andere, wo es mehr Natur gibt. Und Straßen wo nicht viele Menschen sind, wo es sehr ruhig ist. Das ist schön, jetzt wo ich 64 Jahre alt bin, bin ich glücklich, wenn ich manchmal Ruhe habe.
Aber ich habe das auch gerne, wenn eine Straße lebendig ist, wenn ich dort viele Menschen antreffe. Ich finde beide dieser Varianten gut, weil sie existieren, diese Gegensätze.
Welche Dinge mögen Sie an Ihrer Arbeit besonders gerne, welche nicht?
Im Winter ist die Arbeit manchmal schwer, bei sehr kaltem Wetter und Schnee. Fribourg liegt 600 Meter über dem Meeresspiegel, es kann im Winter sehr kalt werden und es schneit fünf-, sechsmal pro Winter. Die Kälte ist nicht sehr angenehm. Eine große Freude machen mir die Begegnungen, die sich auf meiner Runde ergeben. Die Menschen sind sehr freundlich. Da ich meinen Beruf schon so lange ausübe, kennen mich viele Bewohner auch seit langer Zeit. Als ich mein erstes Buch veröffentlicht habe, kamen zu viele Leute auf mich zu. Das war mir am Anfang zu viel. Aber jetzt freut es mich. Die Leute haben viel Sympathie für mich, weil ich ein bisschen ein Original bin: Ein Straßenwischer, der auch Bücher schreibt. Intellektueller und arbeitet mit den Händen. Das gefällt den Menschen.
Gibt es Zeiten, wo es mehr Müll gibt?
Ja, sicher. Wir haben eine große Fastnacht in Fribourg. Im Sommer gibt es ein Musikfestival im Zentrum der Stadt. Wenn die Universität und die Schule zu Ende gehen, gibt es auch viele Feste.
Der Stadtpatron von Fribourg ist St. Niklaus, auch die Kathedrale ist dem Hl. Niklaus geweiht. Deshalb gibt es am Festtag von St. Niklaus einen großen Umzug mit einem Esel.

Bei Schnee und Kälte ist die Arbeit als Straßenwischer besonders herausfordernd.
Nach den Festen gibt es immer besonders viel Müll und Abfall. Aber dann sind auch mehr Straßenreiniger im Dienst und gemeinsam schaffen wir das gut, wieder alles sauber zu bekommen.
Es gibt ein Zitat von Martin Luther King über Straßenkehrer. Kennen Sie das vielleicht? „Wenn ein Mann dazu berufen ist, Straßenkehrer zu sein, sollte er straßenkehren, so wie Michelangelo gemalt, Beethoven komponiert oder Shakespeare Gedichte geschrieben hat.“
Am Anfang meiner Arbeit kannte ich dieses Zitat nicht. Aber eine Freundin, hat mir dieses Zitat einmal zugesendet. Damals habe ich mich sehr gefreut. Ich bin ganz einverstanden damit. Ich sehe meinen Beruf genau so und ich versuche meine Arbeit so zu leben wie dieses Zitat.
Sind Leute manchmal respektlos zu Straßenkehrern, zu Ihnen oder zu Ihren Kollegen?
Ja, aber das kommt nur sehr selten vor. In der Schweiz hat Sauberkeit einen sehr hohen Stellenwert, das ist genetisch.
Die Leute kommen zu uns und bedanken sich bei uns. Sie wollen diese Arbeit nicht selbst machen. Und sie sind dankbar für unsere Arbeit. Manchmal gibt es Leute, die viel Schmutz machen. Im Wissen, dass jemand, nämlich wir Straßenreiniger, das dann wegputzen muss.
Es gibt nun Programme, wo Mitarbeiter von der Straßenreinigung Schulen besuchen, um die Schüler zu sensibilisieren, ihren Müll nicht am Boden liegen zu lassen. Und es ist wirklich so, dass die Straßen in den letzten zehn Jahren sauberer geworden sind. Es wurden auch größere Mülleimer aufgestellt. Das hat viel für die Sauberkeit der Stadt gebracht.
Sie sagen, es ist jetzt besser. Die Straßen sind sauberer. Wie gehen Sie damit um? Ich kenne das von mir zu Hause mit den Kindern. Wenn man aufräumt, Wäsche wascht, ist es kurz sauber, aber gleich wieder schmutzig. Das ist eine Arbeit, die nie fertig ist. Ist das nicht manchmal frustrierend?
Ja, auch Straßenreinigung ist eine Sisyphusarbeit. Wir müssen jeden Tag wieder von Neuem losziehen, um die Straßen zu reinigen. Wenn ein Mitarbeiter damit nicht einverstanden ist, damit keinen Frieden schliessen kann, ist es schwer für ihn. Ich hatte Kollegen, die deshalb aufgehört haben. Sie hatten keinen Antrieb mehr, weiterzumachen. Als Straßenwischer braucht man einen ruhigen, ausgeglichenen Charakter. Und auch eine eigene Philosophie.
Ich bin am Anfang meines Arbeitsleben als Buchhalter immer nur in einem Büro gesessen. Ich sage immer „Ich war in Vitro, jetzt bin ich in Vivo“. Für mich war es schön, für einen öffentlichen Dienst im Freien sein zu können. Ich mache eine Arbeit, die wichtig ist für die Gesellschaft und die Menschen. Sie gehen zur Arbeit und sie sehen eine saubere Straße. Das ist für mich wichtig.
Sie waren Buchhalter, haben Sie gesagt. Aber Sie haben auch Philosophie und Theologie studiert. Warum haben Sie sich dann entschieden, Straßenwischer zu werden?
Meine Frau und ich sind seit über 40 Jahren verheiratet. Wir haben unser gemeinsames Leben mit einer zweijährigen Ausbildung an einer katholischen Theologie-Fakultät begonnen. Die Schule war in Freiburg. Das war ein Vollzeit-Studium. Wir haben daneben nicht gearbeitet. Wir waren 50 Studenten in unserem Jahrgang. Ordensleute, Priester und Ehepaare, ganz gemischt. Ich lernte Brüder von Charles de Foucault kennen und war sehr berührt von ihrem Zeugnis. Sie leben bewusst in Gegenden, die nicht sehr reich sind und machen immer sehr niedrige Arbeiten, zb. als Straßenwischer, in Fabriken oder auf Bauernhöfen.

In ein paar Monaten wird Michel Simonet seinen Karren stehen lassen und in Pension gehen.
Das hat mich fasziniert. Während des Studiums hatte ich 3 Monate Ferien, und während dieser habe ich als Student als Straßenwischer in Fribourg gearbeitet. Auch jetzt noch kommen Studenten im Sommer zur Straßenreinigung, um uns im Urlaub zu vertreten. Es war für mich eine gute Erfahrung, ein gutes Erlebnis. Ich habe die 2 Jahre Theologie-Ausbildung abgeschlossen und ich hätte die Möglichkeit gehabt, in der Kirche zu arbeiten, als Pastoralassistent.
Aber ich habe dann an das Tiefbauamt (Zuständig für die Straßenreinigung) von Fribourg geschrieben und gefragt, ob es eine offene Stelle in der Straßenreinigung gibt. Das war das erste Mal, dass ein Buchhalter oder jemand, der eine Ausbildung in einem nicht manuellen Beruf hatte, sich bewarb.
Der Chef war am Anfang nicht überzeugt. Er dachte, ich habe Depressionen oder sei ein Idealist und würde nach 6 Monaten, wenn der Winter eingezogen wäre, wieder kündigen. Aber ich war sehr glücklich mit meiner Arbeit und bin geblieben. Und mittlerweile bin ich der dienstälteste Straßenwischer der Stadt. Sie kriegen als Straßenwischer sicher weniger bezahlt als ein Arzt oder ein Anwalt. Warum wird Arbeit so unterschiedlich wertgeschätzt? Sauberkeit ist so wichtig, also haben sie einen sehr wichtigen Beruf.
In der Schweiz erhalte ich einen korrekten Lohn als Straßenwischer. Eine Frau, die in einem Supermarkt arbeitet, bekommt weniger bezahlt als ich. Wenn ich Leuten in Frankreich erzähle, was ich verdiene, sagen diese, das sei unglaublich. Die Löhne in Frankreich sind sehr niedrig. Ich verdiene hier in der Schweiz soviel wie ein Universitätsprofessor in Frankreich. Das Leben in der Schweiz kostet allerdings auch mehr.
Aber für mich war der Lohn nicht das Wichtigste. Als Buchhalter arbeitete ich in der Administration für eine Radio-Station. Dort war die Bezahlung sehr niedrig, es war fast ein Ehrenamt. Das genügte mir für mein Leben. Als Straßenwischer war die Bezahlung dann viel besser. Meine Frau musste nicht arbeiten gehen. Wir haben sieben Kinder und sie wollte gerne zu Hause bei den Kindern sein. Mein Lohn als Straßenwischer hat genügt.
Ich habe darüber ein Buch (Ein Paar und sieben Sprösslinge) geschrieben und darin erkläre ich, wie wir das alles gemacht haben: Geld, Wohnung für eine große Familie in unserer Gesellschaft. Für uns hat es gut gepasst. Es hat uns und den Kindern an nichts gefehlt. Inzwischen arbeiten alle meine Kinder und sie verdienen alle mehr als ich.
War es für Ihre Kinder manchmal schwierig, dass Sie Straßenwischer waren?
Am Anfang nicht. Solange sie klein waren, haben sich die Kinder immer sehr gefreut, wenn sie mir auf der Straße begegnet sind. Ich habe vier Söhne und drei Töchter. Im Teenager-Alter sind meine Söhne, wenn sie mich am Schulweg gesehen haben, nicht jedesmal gekommen um mich zu grüßen. Meine Töchter schon, die sind immer gekommen.
Aber ich würde nicht sagen, dass es schwierig für sie war. Meine Söhne haben im Sommer auch für die Straßenreinigung gearbeitet, so wie ich als Student. Sie haben meinen Beruf also auch in der Praxis, „von innen“ kennengelernt. Das war toll, mit meinen Kindern zusammen zu arbeiten. Alle mit der gleichen Arbeitskleidung. Meine zwei ältesten Söhne haben Wirtschaft studiert, die zwei jüngeren sind Lehrer, einer am Gymnasium und einer in der Sekundarschule. Eine meiner Töchter ist auch Lehrerin, eine andere ist Ärztin und die dritte Tochter ist Doktorandin an der ETH in Zürich.
Würden Sie sagen, dass Arbeit glücklich machen kann?
Ja! Ich hoffe zumindest, weil die Arbeit nimmt einen großen Teil des Lebens ein. Das wäre katastrophal, wenn ich die Hälfte des Tages unglücklich wäre.
Leben wir, um zu arbeiten oder arbeiten wir, damit wir leben können?
Wir arbeiten, um leben zu können. Aber manchmal wird die Arbeit so wichtig im Leben, dass wir aufpassen müssen, dass die Arbeit nicht zu viel Platz einnimmt. Ich werde das selbst sehen, in 9 Monaten, wenn ich in Pension gehe. Das wird sicher ein großer Schock für mich. Das wird eine große Veränderung.
Aber ich hoffe, dass es eine gute Zeit sein wird. Ich habe viele Enkelkinder, ich habe noch meine Eltern. Ich singe, auch das ist ein Hobby, ich singe in meiner Kirche.
Ich bin Solist in der Kathedrale. Das macht mir viel Freude. Ich mache oft den Scherz, dass ich die ganze Woche als Straßenwischer neben der Kathedrale arbeite und am Sonntag dann in der Kathedrale singe.
Apropos Glaube: In der Bibel steht, dass Arbeit als Konsequenz des Sündenfalls anstrengend ist. Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen. Und im Garten Eden, da gab es keinen Schmutz, da gab es keinen Müll.
Ja, ja, darüber habe ich auch nachgedacht, dass Arbeit eine Konsequenz des Sündenfalls ist. Aber für mich ist meine Arbeit auch eine Möglichkeit mit Menschen in Verbindung zu treten. Und meine Arbeit ist dann auch ein Segen von Gott. Christus hat ja alles neu gemacht.
Wie würden Sie Ihre Arbeitsphilosophie beschreiben?
Ora et Labora. Auch das Leben der Mönche ist eine Arbeit, für die Menschen und auch für mich. Die Arbeit lässt uns bereit werden für Meditation, Gebet, Gedanken. Während meiner 30 Jahre im Beruf habe ich gearbeitet und auch viel nachgedacht. Als ich mich dazu entschied, ein Buch zu schreiben, hatte ich alle Ideen, alle Kapitel schon im Kopf. Und das Buch habe ich dann in nur 6 Monaten geschrieben. Das Buch ist nicht nur eine Summe von Anekdoten oder Erinnerungen, es ist auch meine Vision vom Leben, von den Menschen. Es gibt darin ein Kapitel über la lenteur, die Langsamkeit.
Erzählen Sie von der Rose, die Sie immer auf Ihrem Wagen haben.
Ja, die Rose. Als ich am Beginn meiner Arbeit mit meinem Karren voll Müll unterwegs war – es war kein schöner Anblick – kam mir der Gedanke, warum nicht Schönheit hier dem Unschönen gegenüber zu stellen, um eine Antithese zu bilden. Schönheit, Hässlichkeit. Und so ging ich zu einem Blumengeschäft und fragte: Haben Sie eine Rose für mich? Sie muss nicht mehr ganz frisch sein, vielleicht eine, die noch einen Tag hält. Und die Verkäuferin hat mir eine Rose geschenkt. Und seit 38 Jahren bekomme ich nun immer diese Rose geschenkt. Als der Laden von einer anderen Besitzerin übernommen worden ist, hat auch diese die Tradition fortgesetzt. Ich bekomme nun immer eine der schönsten Rosen. Dafür müssen andere 9 Euro bezahlen, aber ich bekomme sie gratis. Im Winter, wenn es kalt ist, hält die Rose manchmal 3 oder 4 Tage. Aber im Sommer, wenn es sehr heiß ist, brauche ich manchmal zwei Rosen am Tag.
Zum Abschluss: Was ist für Sie der Sinn Ihrer Arbeit?
Das prinzipielle Ziel meiner Arbeit ist es, Menschen glücklich zu machen. Ich kann nicht alles schaffen, aber zumindest bringe ich eine saubere Straße zustande. Für mich ist das sehr wichtig.