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    inside a warehouse

    Die leeren Hallen von Paris

    Wenn die Industrie abzieht, bleibt den Arbeitern nur ein Bus als letze Hoffnung.

    von Benoît Gautier

    Donnerstag, 6. März 2025

    Verfügbare Sprachen: español, English

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    Batignolles im 17. Pariser Arrondissement war früher ein Industrieviertel. Wer heute dort spazieren geht, sieht eine Mischung aus schicken, ausgefallenen Boutiquen und neuen Sozialwohnungen. Vor anderthalb Jahrhunderten wurden in dem romantischen kleinen Park hinter der Kirche Sainte-Marie-des-Batignolles Gefangene von den gestürmten Barrikaden der Pariser Kommune in dieser Gegend zusammengetrieben, erschossen und in ein Massengrab geworfen. Es heißt, dass sie immer noch dort liegen, in diesem romantischen kleinen Park, irgendwo unter dem Musikpavillon. Wer von der Kirche hinuntergeht und den Park durchquert, stößt auf einen kleinen Bahnhof. Vor einem Jahrhundert standen dort Lagerhäuser so weit das Auge reichte. Dann kam die Eisenbahn, die Paris mit dem industriellen Nordwesten Frankreichs und mit den Fabriken Großbritanniens verband.

    Heute sind die Lagerhäuser von Batignolles, wie ein Großteil der französischen Industrie, fast vollständig abgewandert. Vor 20 Jahren, zu Beginn der zweitausender Jahre, existierte noch ein Lagerhaus eines Herrenausstatters – ein Glied einer Lieferkette, die Waren an Einzelhandelsgeschäfte im ganzen Land verteilte. Als ich den Mann, den ich hier Kwasi nenne, zum ersten Mal durch meine Arbeit für seine Gewerkschaft traf, erzählte er mir, wie er bei dem Unternehmen anfing und in eine Sozialwohnung in den Batignolles zog, nicht weit vom Lagerhaus entfernt. Seine Wohnung lag am Stadtrand, jedoch noch innerhalb der Stadtmauern von Paris, und war schon damals ein seltener Luxus für einen schlecht bezahlten Industriearbeiter. Fast zwei Jahrzehnte später lebt er immer noch in den Batignolles, zusammen mit einem Dutzend anderer Lagerarbeiter. Das Lagerhaus ist nicht mehr da.

    woman operating a forklift in a warehouse

    Foto von Getty Images für Unsplash+. Verwendet mit Genehmigung.

    Einige Jahre nachdem Kwasi eingestellt wurde, verkündete das Management, dass die Pariser Mieten nicht mehr tragbar seien. Daraufhin verlegte man das Lagerhaus einige Kilometer aus der Stadt hinaus, in ein dicht besiedeltes Arbeiterviertel der Stadt Épinay-sur-Seine. Ich steige bei Kwasi ins Auto und eine halbe Stunde später steigen wir dort aus, wo das Lagerhaus hinverlegt wurde, direkt neben einem Friedhof in Épinay. Nach dem Umzug mussten die Arbeiter aus Batignolles mit dem Zug zur neuen Arbeitsstelle fahren, während andere aus der Umgebung neu eingestellt wurden. Die Belegschaft begann immer mehr der Bevölkerung von Épinay zu ähneln: Menschen die aus Afrika, der Karibik oder dem indischen Subkontinent stammten.

    Aber die Kosten mussten weiter gesenkt werden und der Betrieb wieder umziehen – noch weiter weg von Paris. Jetzt befindet sich das Lagerhaus noch weiter nördlich in der Picardie, einem flachen, von Ackerbau geprägten Land, das nur dünn besiedelt ist von Menschen aus der Arbeiterschicht. Wieder stellte das Management neue Arbeitskräfte aus der Umgebung ein. Im Lagerhaus arbeiteten schließlich drei sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen. Es gibt ein paar Vertreter der letzten Generation der Pariser Industriearbeiter, die kinderlosen Erben der Kommunarden, die in dem romantischen kleinen Park begraben sind. Die Arbeiter aus Épinay, die oft erst seit kurzer Zeit in Frankreich leben und als Banlieusards bezeichnet werden, haben ihren Spitznamen von den dicht besiedelten Pariser Vororten, den Banlieues – bekannt für Ausschreitungen, die häufig durch Polizeigewalt ausgelöst werden. Und schließlich die weißen Arbeiter der Picardie, die in halb-ländlichen Gemeinden in der Ebene leben, weit entfernt von den kulturellen Zentren: für ihre Arbeit aufs Auto angewiesen, hängt ihre wirtschaftliche Stabilität vom Spritpreis ab. Das sind die Menschen, die 2018 und 2019 bei den „Gelbwesten“-Protesten auf die Straße gingen.

    Die Banlieusards haben sich den Gelbwesten nie in großer Zahl angeschlossen und die weißen Arbeiter haben die Kämpfe gegen die Polizeigewalt in den Banlieues nie nennenswert unterstützt. Die beiden Gruppen sind in ihrer Kultur, ihren Interessen und ihrem täglichen Leben so unterschiedlich, dass die linken politischen Parteien Schwierigkeiten haben, eine Koalition zu bilden, mit der sich beide Arbeitergruppen identifizieren können. Für einige Linke besteht das ultimative politische Ziel darin, „die in den Wohntürmen und die in den Kleinstädten“ zu vereinen. Andere halten das für reines Wunschdenken. Selbst wenn die beiden Gruppen die gleiche Arbeit verrichten, wie im Lagerhaus, gehen ihre Forderungen an das Management oft auseinander: Wo Banlieusards Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder den Kosten für öffentliche Verkehrsmittel wünschen, ziehen ihre weißen Kollegen höhere Löhne vor, um ihre Benzinkosten auszugleichen. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass diese Menschen nicht zur gleichen Arbeiterklasse gehören.

    Als sie von der erneuten Verlegung des Lagers erfuhren, suchten sich einige der in Batignolles und Épinay lebenden Arbeiter kurzerhand eine andere Arbeit. Es blieben jene, die keine andere Wahl hatten: Sie waren entweder zu alt, um wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen, ihre Körper waren von der Arbeit zermürbt, oder es waren alleinstehende Frauen, die für ihre Kinder sorgen mussten. Die Arbeitnehmer aus Batignolles und Épinay setzten beim Unternehmen einen kostenlosen Pendelbus durch, der sie vom alten Lager in Épinay zu ihrem neuen Arbeitsplatz auf den Feldern der Picardie bringt.

    Als ich in den Bus einsteige, stellt mich Kwasi den Fahrgästen vor. Mein Beruf – gewerkschaftlich bestellter Experte für Arbeitssicherheit – existiert nur aufgrund einiger Paragrafen im Code du Travail, dem dicken französischen Arbeitsgesetzbuch. Sie wurden in den frühen 1980er Jahren von einer sozialistischen Regierung ins Gesetzbuch aufgenommen. Es war der Höhepunkt einer Bewegung, die so alt war wie der industrielle Kapitalismus und die über Jahrzehnte von einer Koalition aus linken Politikern, katholischen Sozialaktivisten, Arbeitssoziologen und progressiven Managern vorangetrieben wurde. Diese Leute glaubten, dass das Arbeitsleben demokratischer werden müsse, Chefs und Arbeitnehmer in einen Dialog eintreten müssten und dass eine neue Art von Gesellschaft entstehen würde, wenn dies durchgesetzt werden könnte. Den einen schwebte ein stabilisierter, ethischer Kapitalismus vor, den anderen ein Sozialismus, der sich durch die Selbstverwaltung der Arbeiter von unten definiert.

    Eine der Forderungen des Code du Travail ist, dass die Betriebsräte die Möglichkeit haben sollten, Experten hinzuzuziehen, um Chancengleichheit zu garantieren, wenn sie mit den Bossen – und deren Heerscharen von angeheuerten Beratern – diskutieren. Einige Kommentatoren warnten 1981 die Wähler, dass am Tag nach der Wahl eines sozialistischen Präsidenten russische Panzer über die Champs-Élysées rollen würden. Die Panzer sind nie aufgetaucht. Stattdessen kamen Menschen wie ich: Wir gingen in die Fabriken, öffneten die Türen der Werkstätten, brachten die sonst stillen Arbeiter dazu, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Zu Fragen, die sie wütend und besorgt machten, verlangten wir Antworten von den Managern.

    worker in a warehouse

    Foto von Brooke Winters/Unsplash. Verwendet mit Genehmigung.

    Die Menschen, die ich im Pendelbus treffe, kommen hauptsächlich aus Afrika. Sie besitzen kein Auto und sind meist schon eine Stunde oder länger mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen, um zum Bus zu gelangen. Von Épinay aus dauert es noch mehr als eine Stunde bis zum Lagerhaus. Im Bus berichten mir die Frauen – und ein paar Männer –, wie das Pendeln fast ihre ganze Freizeit verschlingt und es ihnen erschwert, sich um ihre Kinder zu kümmern, die offenbar der Hauptgrund sind, warum sie in diesem anstrengenden und gefährlichen Job weitermachen.

    Einige von ihnen krempeln ihre Ärmel hoch und zeigen mir Narben, die von den Handgelenken bis zu den Ellbogen reichen. Die schnellen, repetitiven Bewegungen bei ihrer Arbeit im Lagerhaus belasten ihr Nervensystem und verursachen langfristig eine teilweise Lähmung ihrer Hände. Einige von ihnen haben die gleichen Verletzungen drei- bis viermal erlitten, wobei jede weitere Verletzung neue Narben hinterlässt. Lachend erzählen mir die Frauen, wie einem Kollegen von einer der Maschinen im Lager ein Finger abgeschnitten wurde: „Wir haben ihn nie gefunden, er muss in irgendeinem Laden in einem Karton liegen.“ Sie zeigen auf einen Mann, der hinten im Bus sitzt und uns mit seiner vierfingrigen Hand zuwinkt. Im Gegensatz zu seinen Kollegen lacht er nicht darüber. Ich stelle mir den mumifizierten Finger dieses Mannes vor, der womöglich in einem Karton voller Low-Rise-Jeans irgendwo in der Endlosschleife des Logistiksystems liegt und seit Jahren darauf wartet, gefunden zu werden.

    In seinem Gesicht spiegelt sich das Ausgeliefertsein dieser Arbeiter wider – ihr Leben wird durch Entscheidungen bestimmt, die andere über sie hinweg treffen und die sie nicht beeinflussen können.

    Kwasi wollte, dass ich mit seinen Kollegen mitfahre, um direkt von ihnen zu hören und ihre Gesichter und ihre Hände und Arme zu sehen. Ich bin hier, weil das Unternehmen behauptet, es könne sich den Pendelbus nicht mehr leisten. Kwasi beauftragte mich und einen Kollegen damit, die Folgen dieser Entscheidung für die Arbeitnehmer aufzuzeigen, in der Hoffnung, dass das Unternehmen seinen Plan aufgibt.

    Ein älterer Mann mit starkem griechischen Akzent notiert sich meine Telefonnummer. Er möchte sich mit mir persönlich treffen. Er behauptet, Dokumente zu besitzen, die zeigen, dass das Unternehmen nicht redlich handelt. In der Gegend von Batignolles, nahe seinem Zuhause, treffen wir uns in einer der letzten Arbeiterkneipen, direkt gegenüber dem Bahnhof. Hinter ihm sehe ich den Musikpavillon des romantischen Parks. Er zeigt mir die Dokumente. Vielleicht sieht er an meinem Gesichtsausdruck, dass das, was er mir gegeben hat, bei weitem nicht ausreicht, um die Entscheidung des Unternehmens zu ändern, denn er greift nach meinen Armen und fleht mich verzweifelt an, „den Pendelbus zu retten“, als wäre dieser kleine Bus das Einzige, was sein Berufsleben und womöglich sein Leben überhaupt noch am Laufen hält. In seinem Gesicht spiegelt sich das Ausgeliefertsein dieser Arbeiter wider – ihr Leben wird durch Entscheidungen bestimmt, die andere über sie hinweg treffen und die sie nicht beeinflussen können.

    Als experte für Arbeitssicherheit wurde ich von den Gewerkschaften beauftragt, die Arbeiter in den Betrieben über ihre Probleme zu befragen und mir ihre Arbeitsbedingungen anzusehen. Die Arbeiter hatten fast nie ein Problem mit meiner Anwesenheit. Die Manager schon. Sie empfanden unsere Untersuchung als Zumutung, schon allein weil das Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet war, die Kosten zu übernehmen. Sie wollten wissen und sogar mitbestimmen, wen wir treffen, welche Fragen wir stellen, wohin wir gehen und was wir sehen. Die Sicherheit und das Wohl der Arbeitnehmer sind wichtige Themen, darüber waren sie sich einig, und sie erklärten sich bereit, Experten zu engagieren, um Probleme zu verstehen und Risiken zu minimieren. Dass wir diese Experten waren, gefiel ihnen allerdings nicht. Als ich bemerkte, wie nervös wir die Manager machten, wurde mir klar, dass meine Anwesenheit mehr als nur ein bürokratisches Erfordernis war. Sie waren es nicht gewohnt, dass an ihrem Arbeitsplatz Entscheidungen getroffen wurden, über die sie keine Kontrolle hatten. Es war Kwasi, der bestimmte, dass die Streichung des Pendelbusses geprüft werden müsse, dass mein Kollege und ich als Experten diese Prüfung durchführen sollten und dass wir unsere Untersuchung bei den Arbeitern selbst und nicht beim Unternehmen beginnen sollten.

    worker wearing a hard hat

    Foto von Getty Images for Unsplash+. Verwendet mit Genehmigung.

    Als ich das Lager betrete, sehe ich die raschen Bewegungen der Fließbandarbeiter beim Befüllen der Pakete und beobachte den stillen Verschleiß ihres Nervensystems. Ich spüre die unerträglichen Temperaturen in den Lastwagen, in denen junge Männer schwere Pakete stapeln. Die Geschäftsleitung hat uns gesagt, dass wir uns darüber keine Sorgen machen sollen: Alle Pakete würden gewogen und das Gewicht würde sorgfältig kontrolliert, um sicherzustellen, dass die Arbeit nie das gesetzlich festgelegte Niveau der „harten Arbeitsbedingungen“ übersteigt. (Dies würde den Arbeitgeber dazu verpflichten, Frühpensionierungen anzubieten.) Einer der Arbeiter zeigt uns, wie die Paketwaage manipuliert wurde, sodass die Pakete immer leichter angezeigt werden, als sie tatsächlich sind. Betrachtet man die Gesetzestexte und Betriebsvorschriften, so bietet Frankreich seinen Arbeitnehmern den umfassendsten Schutz in ganz Europa – zumindest theoretisch. Andererseits gehört Frankreich mit der vierthöchsten Zahl an tödlichen Arbeitsunfällen und der höchsten Unfallquote überhaupt zu den gefährlichsten Ländern für Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union. Meine Besuche in Werkstätten, Lagereinrichtungen und zahlreichen anderen Arbeitsstätten machen deutlich, woran das liegt: Gesetze und Vorschriften werden kaum vollständig durchgesetzt, Inspektionen sind Mangelware.Selbst wenn Arbeitgeber bei offensichtlichen Verstößen ertappt werden, bleiben die Strafen aufgrund gesetzlicher Obergrenzen überschaubar.

    Wir sprechen mit Gabelstaplerfahrern, deren Wirbelsäule verformt ist, weil sie jahrelang ständig nach oben zu den riesigen Regalen schauen mussten. Eine Frau erzählt mir, dass sie wegen arbeitsbedingter Verletzungen bereits zweimal an der Wirbelsäule operiert wurde. Als sie die Stelle antrat, betrieb sie regelmäßig Sport. Dazu ist sie nun nicht mehr in der Lage. Sie ist trotz allem dankbar, dass die Manager sie nicht entlassen haben, nachdem sie ihren Rücken ruiniert hatten – und sie empfindet keinerlei Sympathie für die Nutzer des Pendelbusses oder die Versuche der Gewerkschaft, die (wie sie meint) rachsüchtigen Banlieusards zu verteidigen.

    Nach einmonatiger Recherche und rund 40 Interviews mit Arbeitern verlassen mein Kollege und ich die Lastwagen und Fließbänder des Lagers, um uns in einem fensterlosen Raum in der Firmenzentrale einzufinden. Uns gegenüber sitzen die Arbeitnehmervertreter und die Unternehmensleitung, angeführt vom Personalmanager, der auf Arbeitsbeziehungen spezialisiert ist. Wir stellen die Ergebnisse unserer Recherche vor. Während die PowerPoint-Folien hinter uns aufleuchten, sprechen wir über die verdrehten Wirbelsäulen und die manipulierten Waagen, die hohen Temperaturen und die geschädigten Nervenenden. Wir versuchen zu zeigen, wie sehr diese Menschen auf den Bus angewiesen sind, um das fragile Gleichgewicht ihres Lebens zu bewahren. Wir liefern Beweise, Bilder, Statistiken und Zitate aus den Interviews.

    In unserem Bericht dokumentierten wir die Stimmen der Arbeiter, mit denen sich das Management sonst nie auseinandersetzen müsste und die es ohne unsere Intervention wohl gar nicht wahrnehmen würde. In einem vornehmen Konferenzraum, wo Vorstandsmitglieder sonst mit ihrem abstrakten Fachjargon über Kosten, Wachstumszahlen, Marktanteile und Rendite diskutieren, läuft jetzt eine Präsentation, deren Zahlen und Fakten eine unbequeme Wahrheit zeigen. Trotz unserer Arbeit kann das Unternehmen den Pendelbus abschaffen. Aber es kann nicht mehr behaupten, nichts von den Folgen gewusst zu haben. Und sollte eines Tages der unerträgliche Druck, den eine solche Entscheidung auf das Leben der Arbeiter ausübt, zu einer Verletzung oder zum Tod einer Person führen, könnte unser Bericht zu einem entscheidenden Beweismittel in einem Strafverfahren werden.

    Wir verbringen sechs Stunden in diesem Raum. In dieser Zeit wird vor allem gebrüllt. Derjenige, der am meisten brüllt – brüllt, bis er rot im Gesicht ist, bis er buchstäblich Schaum vor dem Mund hat – ist der Leiter der Personalabteilung. Die anderen wechseln sich dabei ab, unsere Antworten zu unterbrechen, unsere Recherchen anzuzweifeln und zu behaupten, dass nichts von dem, was wir ihnen erzählen, wahr sei. Der Personalmanger, der Spezialist für Arbeitsbeziehungen, beteiligt sich nicht an der Schreierei. Er spielt mit einem Blatt Papier und lächelt. Er hält es so, dass wir es lesen können: Es informiert uns darüber, dass wir wegen übermäßiger Inanspruchnahme unserer Befugnis verklagt werden. Es wird nie abgeschickt werden. Es ist nur eine Methode, uns während unserer Präsentation zu verunsichern und Druck auf uns auszuüben.

    Beim Betreten des Lagers sehe ich die raschen Bewegungen der Fließbandarbeiter beim Befüllen der Pakete und beobachte den stillen Verschleiß ihres Nervensystems. Ich spüre die unerträglichen Temperaturen der Lastwagen, in denen junge Männer schwere Pakete stapeln.

    Während dieses stundenlangen, intensiven und chaotischen Hin und Hers müssen wir immer als neutrale Sachverständige auftreten. Die Grundlage unseres Berichts sind jene Prinzipien, die vor Jahrzehnten im Code du Travail verankert wurden: Der Glaube daran, dass überzeugende Beweise vernünftige Menschen dazu bewegen, an gemeinsam erklärten Zielen zu arbeiten – wie am Schutz der Gesundheit von Arbeitern.

    Was diese sechs Stunden Gebrüll noch quälender macht, ist die Tatsache, dass jeder in diesem Raum weiß, dass nichts von dem, was mein Kollege und ich sagen oder machen, das Unternehmen davon abhalten kann, den Pendelbus abzuschaffen. Dem Unternehmen muss dieser ganze Prozess wie reine Zeit- und Ressourcenverschwendung vorkommen. Wozu sich die Mühe machen, Fragen zu stellen, wenn ohnehin keine echte Aussicht auf ein positives Ergebnis besteht? Was bringt es, für Rechte von Arbeitern zu kämpfen, die ohnehin schon so gut wie entlassen sind? Sogar einige der Arbeiter aus der jetzigen Umgebung des Lagerhauses halten die Pendelbus-Nutzer für unzuverlässig und nicht produktiv genug.

    warehouse worker with a pallet jack

    Foto von Getty Images for Unsplash+. Verwendet mit Genehmigung.

    Mit der Einstellung des Busses würde man nicht nur einen bescheidenen Betrag einsparen, sondern auch Arbeiter loswerden, die zunehmend ausgelaugt, alt, gebrechlich und sozial vom Rest der Belegschaft isoliert sind. Die störrischen Veteranen loszuwerden, könnte die Bindung zwischen den neu Eingestellten und der Unternehmensführung stärken. Die älteren Arbeitnehmer sind ein lebendiges Zeugnis dafür, dass die Verpflichtungen eines Unternehmens gegenüber dem lokalen Umfeld immer Grenzen haben. Das Unternehmen profitiert davon, wenn Mitarbeiter glauben, ihr Arbeitsverhältnis sei dauerhaft, denn sie arbeiten engagierter, wenn sie eine langfristige Zukunft bei ihrem Arbeitgeber sehen. Dieser Glaube ist nützlich, bis zu dem Moment, wo das Unternehmen seine Zelte abbricht. 

    Das stundenlange Gebrüll auszuhalten, fällt mir nicht leicht, doch drei Dinge geben mir Kraft: die Unterstützung durch meinen Kollegen, die Wichtigkeit unserer Arbeit und vor allem der Mut der Arbeitnehmervertreter, die sich unerschrocken der Unternehmensleitung entgegenstellen. Sie stehen füreinander ein – nicht nur in den Chefetagen, sondern vor allem dort, wo die eigentliche Arbeit stattfindet. Nur diese Form der Solidarität kann es mit Macht und Geld aufnehmen, auch wenn man neun von zehn Kämpfen verliert.

    Jene wenigen Zeilen im Code du Travail haben zwar nicht die Gesellschaft geschaffen, von der ihre Verfasser geträumt haben, aber sie wirkten auf eine Art, die niemand vorhergesehen hatte. Das Gesetz verpflichtet die Unternehmensleitung, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf das Leben der Beschäftigten zu berücksichtigen und die Stimmen der Arbeitnehmer anzuhören. Die Arbeit des Gesetzgebers und der Sozialwissenschaftler sorgt dafür, dass aus flüchtigen Gesprächen in der Kaffeepause offizielle Dokumente werden, die selbst in Konferenzräumen und Vorstandsetagen nicht ignoriert werden können. Durch die Worte und Zahlen in den Berichten bleiben Arbeiter lebendig, die sonst bereits vergessen wären, und schaffen damit eine besondere Form der Solidarität.

    Von unserer sozialen Herkunft her stehen mein Kollege und ich als Akademiker den Managern viel näher als den Arbeitern, deren Anliegen wir jetzt vertreten. Vor unserer Konferenz hätte ich mich im Wohnzimmer des wütenden Personalleiters viel wohler gefühlt als in einem Pendelbus mit Arbeitern, die mir ihre Narben zeigen. Doch bei Solidarität geht es nicht um Blutsverwandtschaft, Stammesdenken oder kulturelle Zugehörigkeit. Es geht darum, wem man dient, mit wem man gemeinsame Sache macht und wem die Stirn zu bieten man bereit ist. Kapital will reibungslos und still fließen, ohne dass man die Schreie der Arbeiter hört, die es erst ausnutzt und dann abstößt. Gespieltes Mitgefühl ölt die Maschine – aber wer die unsichtbaren Grenzen überschreitet, lernt das wahre Gesicht des 
    Systems kennen.

    Für mich ist Solidarität kein warmes, geborgenes Miteinander, sondern das schonungslose Offenlegen der eigenen Verletzlichkeit und das kalte Gefühl der Angst. Als ich die Fassade der hohlen PR-Floskeln durchbrach, die Unternehmen zu ihrer Selbstdarstellung nutzen, fühlte ich mich wie in einem immer wiederkehrenden Albtraum: Ich bin auf meinem Sitz in einem völlig leeren Pendelbus festgeschnallt – leer bis auf mich und einen Fahrer, dessen Gesicht ich nicht sehen kann. Ich merke, dass er den Motor anlässt, doch wohin die Fahrt geht und was sein Ziel ist, bleibt mir verborgen. Während er beschleunigt, muss ich ohnmächtig zusehen, wie sich die Umgebung um uns herum in eine Landschaft des Grauens verwandelt. Ich spüre den Drang, eine Tür aufzubrechen und unbemerkt abzuspringen, aber aus der gefährlichen Arbeitswelt, zu der dieser Bus fährt, gibt es keinEntkommen. Wir sind jedoch nicht allein, auch wenn es sich so anfühlt. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, dass der Bus voller Menschen ist, denen es genauso geht wie uns. Vielleicht sind wir zahlreich genug, um den Fahrer zu zwingen, sein Gesicht zu zeigen – vielleicht sogar genug, um die Regeln zu brechen, das Steuer zu übernehmen und die Notbremse zu ziehen.

    Von BenoitGautier Benoît Gautier

    Benoît Gautier ist Schriftsteller und Übersetzer in Paris.

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