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Das Brausen des Himmels
Den Arzt aufsuchen oder einfach beten – zwischen Wundern und Krankenhäusern.
von Maximilian Oettingen
Donnerstag, 11. Dezember 2025
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Es machte „plopp“. Ich traute weder meinen Augen noch meinen Ohren. Was war passiert? Meine Frau ließ für sich beten. Und zwar im Rahmen eines kleinen, christlichen Gebetsabends in einer unscheinbaren Gemeinde unweit des Wiener Hauptbahnhofes. Sie hatte schon länger Schwierigkeiten mit der Schulter. Wir waren bei Ärzten. Sie machten, was sie konnten. Die Situation besserte sich kaum. Aber an diesem Abend, mittlerweile vor 15 Jahren, – plopp, da passierte es. Die Schmerzen an der Schulter waren zwar vorerst noch da, aber andere Schwierigkeiten – am Hüftgelenk – waren weg. (Kurze Zeit später beruhigten sich auch die Schulterschmerzen).
Vor rund zwei Jahren erzählte mir eine Bekannte, dass sie bei einem Gebetstreffen war. Dort sprach jemand vorne in ein Mikrophon, dass Nackenschmerzen im Namen Jesu verschwinden mögen. Kurz danach waren ihre Nackenschmerzen kaum noch spürbar.
Vor ein paar Monaten erzählte mir ein junger, mit mir verwandter Mann, der sich damals mit einem grippalen Infekt herumschlug, folgende Geschichte: Er ging bei einer christlichen Konferenz zu Personen, die für andere beten. Das nennt man „Gebetsteam“. Er schilderte seine Situation. Das Gebet fing an, ganz schlicht in der Form. Und dann sei es so gewesen, als zöge jemand etwas Längliches aus seinem Kopf heraus. Die Krankheitssymptome waren nicht mehr da.
Rembrandt van Rijn, Jesus heilt die Kranken, Radierung, 1648. Bilder von Wikmedia (public domain).
Vor ein paar Wochen betete ich mit ein paar Freunden für eine Person, die starke Kopfschmerzen hatte. Sie sprach von Migräne. Nach einer ersten Runde Gebet von ca. 20 Sekunden passierte nichts, nach der zweiten Runde (wieder ca. 20 Sekunden) waren die Schmerzen fast ganz weg.
Bei Kopfweh nehme ich üblicherweise ein Aspirin. Bei einem Fieberschub lege ich mich ins Bett. Und bei einem bakteriellen Infekt ist ein Antibiotikum etwas Sinnvolles. Also ja, ich lasse in den genannten Fällen auch für mich beten oder bete selbst – aber ich handle natürlich auch praktisch, denn: „Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen“ (Mt 23,23). Was bei unserem Thema wiederum eine spezifische Sicht von Wirklichkeit und auf Gott voraussetzt, die ich versuche im Folgenden anzudeuten, um – wenn ich das so sagen darf – unseren übernatürlichen Blick auf das Natürliche und unseren natürlichen Blick auf das Übernatürliche zu schärfen.
Der übernatürliche Blick auf das Natürliche: Können Wunder heute in unserer erfahrbaren Wirklichkeit vorkommen? 1947 ging C.S. Lewis in seinem Buch Miracles genau dieser Frage nach. Und er plädierte für die Realität von Wundern, vor allem, indem er die Grundannahme, dass es keine geben könne, hinterfragte. Wie sollten denn Wunder auch möglich sein, wenn man sie denkunmöglich vorannimmt? Womit Lewis den neuzeitlichen Fokus auf das eigene Subjekt aufbrach, die Perspektive für das Staunen öffnete und so gegen die damalige, geistesgeschichtliche Hauptströmung schwamm.
1637 formulierte nämlich der französiche Philosoph René Descartes sein berühmtes „Cogito, ergo sum“ (ich denke, also bin ich). Er ging also davon aus, dass das Ich des cogito – in den Worten des Philosophie Magazins – eine primäre Wahrheit ist, „die es ermöglicht, objektives Wissen auf dem Selbstbewusstsein des Subjekts und nicht mehr auf der Kontemplation der Welt zu gründen.“ Diese Entdeckung revolutionierte die Philosophie, die danach nicht mehr aufhörte, sich mit der Natur dieses Ichs zu beschäftigen. Was passiert aber, wenn nicht mehr die Betrachtung einer größeren Welt, sondern vielmehr das Ich mein erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt ist, anhand dessen ich meinen Denk- und Lebensvollzug orientiere? Was passiert, wenn wir uns vor allem mit uns selbst beschäftigen?
In so einem Fall werden wir zum Maßstab dessen, was in unserer Wirklichkeit Wirklichkeit sein darf; zu einem Maßstab, der Phänomene außerhalb unseres Erfahrungshorizontes nicht erfasst, nicht erfassen kann. Und wenn die Wirklichkeit „Wunder“ in unserer Lebenswirklichkeit noch nicht vorkam, gehen wir wie von selbst davon aus, dass es sie nicht gibt, nicht geben kann. Genau diese Grundannahme hinterfragte C.S. Lewis. Was ist aber ein Wunder?
Wikipedia meint: „Als Wunder gilt umgangssprachlich ein Ereignis, dessen Zustandekommen man sich nicht erklären kann, so dass es Verwunderung und Erstaunen auslöst. Es bezeichnet demnach allgemein etwas Erstaunliches und Außergewöhnliches.“
Erkenntnistheoretisch ereignet sich also bei einem Wunder etwas, bei dem nicht ich selbst der Orientierungspunkt meines Denkens und Handelns bin. Vielmehr passiert etwas, das meinen Erfahrungshorizont überschreitet, etwas, das auf mich zukommt, mich überrascht, erschreckt, betört, fasziniert, etwas, das mich dazu bringt, die Welt in ihrem So-Sein und in ihrem Größer-als-ich-Sein zu betrachten, etwas, das mich meiner eigenen Begrenzung bewusst sein lässt. Fallen Ihnen solche Situationen oder Momente ein?
Und wenn die Wirklichkeit „Wunder“ in unserer Lebenswirklichkeit noch nicht vorkam, gehen wir wie von selbst davon aus, dass es sie nicht gibt, nicht geben kann.
Ich staune zum Beispiel, wenn ich einen Künstler beim Ausüben seiner Kunst beobachte, beispielsweise eine Malerin beim Malen. Wie ist es möglich, Gedankliches in materieller Farbe auf eine Leinwand zu bringen, in einer Weise, die Inhaltliches kreativ verstehbar transportieren kann?
Ich staune, wenn ich einen Apfelkern sehe und mir dabei denke, dass daraus ein Apfelbaum wachsen kann. Ich kann die wissenschaftliche Beschreibung des Prozesses Apfelkern-zu-Apfelbaum natürlich nachlesen. Erstaunlich ist er trotzdem.
Ich staune, wenn ich vor einem Berg stehe. Er ist riesig, er ist da, das nicht erst seit gestern, auch nicht nur bis morgen und all das völlig unabhängig von mir.
Ich staune, wenn ich einen guten Arzt beobachte, der das Wohl eines Patienten in den Blick nimmt, treffsicher eine Krankheit diagnostiziert, die entsprechende Arznei verabreicht und dann stellt sich körperliche Besserung ein.
Wenn jemand mich anlächelt – offen gestanden, ich staune. Nicht im Sinne eines Überraschtseins, sondern im Sinne einer Wirklichkeit, die von außen auf mich zu kommt und mich emotional und existenziell positiv anspricht.
Jedes Mal, wenn mir meine Frau eine Geste der Liebe übermittelt – ich staune, es betört mich, es macht etwas mit mir.
Wenn im Familien- oder Bekanntenkreis echte Versöhnungen stattfinden – ich staune.
Und schließlich versichere ich Ihnen: Einer Geburt beizuwohnen bedeutet einem Wunder beizuwohnen.
Albert Einstein sagte: „Es gibt zwei Arten sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines. Ich glaube an Letzteres.“ Ich auch. Und in so einer Welt zu leben, bedeutet auch, dass wir natürlich zum Arzt gehen und übernatürlich für uns beten lassen. Ersteres macht Sinn, weil wir an ein schöpferisches Wort „im Anfang“ (Joh 1,1) glauben, aufgrund dessen Natürliches les- und verstehbar ist, aufgrund dessen Krankheiten durchschaut und behandelt werden können; Letzteres, weil dieses schöpferische Wort aus Liebe zu uns Fleisch geworden ist, um unter uns zu wohnen, um uns zu erlösen und, um mit uns Sein Reich auszubreiten, nicht nur mit Worten, sondern verbunden mit dem „Erweis von Geist und Kraft“ (1 Kor 2,4 und vgl. u.a. Joh 1, Hebr 9,15, Mt 10,7-8). Womit wir beim Nachdenken über Gott angelangt sind. Konkreter über die Art und Weise, wie er wirkt.
Der natürliche Blick auf das Übernatürliche:Um gleich mit der theologischen Tür ins Haus zu fallen: Es gibt einen Heiligen Geist. Und er wirkt in uns und durch uns.
In uns: Am Abend des Ostersonntages, als sich die Jünger aus Furcht hinter verschlossenen Türen versammelt haben, „kam Jesus“, wie es bei Johannes 20,19 heißt, „trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!“ Und fast im selben Atemzug spricht der Herr dann folgende Worte: „Empfangt den Heiligen Geist!“ (Joh 20,22). Jedes Mal, wenn wir – ich spreche jetzt aus katholischer Perspektive – kommunizieren, tritt der Herr durch die verschlossenen Türen unserer menschlichen Existenz in uns hinein und sagt: „Friede sei mit dir!“ Und fast im selben Atemzug schenkt er uns den Heiligen Geist. Bei einer Beichte ist es genauso. Gott gießt Sein Leben durch den Heiligen Geist in unsere Seele ein, um sie von der Sünde zu heilen und sie zu heiligen. Und wie ist unsere Reaktion? Bei Johannes 20,20 steht dazu ganz schlicht: „Da freuten sich die Jünger“. Bei mir ist es sehr ähnlich. Gerade nach dem Empfang der Kommunion, oder wenn mir die Absolution zugesprochen wird. Da schließe ich meine Augen und freue mich über Seine Gegenwart und Sein Wirken in mir.
Durch uns: Das Pfingstereignis wird folgendermaßen beschrieben: „Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Hl. Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab“ (Apg 2,2 – 4). Und die Wirkung, die mit diesem Erfüllt-Werden mit dem Heiligen Geist einhergeht, ist bezeichnend: Die junge Kirche ist auf einmal dynamisch, so lesen wir es in der Apostelgeschichte. Sie geht auf die Straße, sie predigt, und zwar so, dass es die Leute „mitten ins Herz“ (Apg 2,37) trifft. Mehrere tausend Personen schließen sich ihnen an. 50 Tage vorher, am Abend des Ostersonntages, als der Herr den Heiligen Geist hinter den verschlossenen Türen schenkt, „freuten sich die Jünger.“ Und jetzt, zu Pfingsten, werden die Türen geöffnet, und die junge Kirche verkündigt im Heiligen Geist und voll Freude das Evangelium Jesu Christi. Ist es nicht geradezu natürlich, dass Gott mit dem „Erweis von Kraft und Geist“ (vgl. 1 Kor 2,4) auf seine Übernatürlichkeit verweist, in einer Weise, die uns staunen lässt über Seine Nähe und liebende Zuwendung?
Wir Christen heißen Christen, also wörtlich „die Gesalbten“, weil wir an der Salbung Jesu Christi (also wörtlich an der „Salbung Jesu des Gesalbten“) teilhaben.
Einige zählen 40 Wunder im öffentlichen Wirken Jesu Christi, das Johannesevangelium kennt sieben „Zeichen“. Wir Christen heißen Christen, also wörtlich „die Gesalbten“, weil wir an der Salbung Jesu Christi (also wörtlich an der „Salbung Jesu des Gesalbten“) teilhaben. Er ist es, der von sich am Beginn seines öffentlichen Wirkens sagt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt, er hat mich gesandt, damit…“ (Lk 4,18). An dieser Seiner Sendung haben wir Anteil. Sollte es nicht geradezu natürlich sein, dass man an uns die übernatürliche Salbung Christi wahrnimmt, beispielweise dann, wenn wir für Kranke beten?
Die Tatsache, dass es Krankenhäuser gibt, verdanken wir unserem christlichen Erbe. Sie haben auch etwas Zeichenhaftes an sich, etwas, das vom Evangelium spricht, nämlich: es ist gut, dass wir uns um unsere Kranken kümmern, durch Pflege und medizinische Betreuung. So kommt zur Sprache, dass sie gerade in ihrer Zerbrechlichkeit geliebt sind. Und genau dasselbe passiert, wenn der Herr durch ein Gebet in Seinem Namen ein Charisma der Heilung (vgl. u.a. 1 Kor 12,9) schenkt. Die Person, für die gebetet wird (oder wurde), wird von Seiner liebenden Zuwendung berührt, bis ins Natürliche hinein. Wenn dann unter Achtung der Autonomie und Würde von Patienten Charismen der Heilungen im gewöhnlichen Duktus eines Krankenhauses systemisch und achtsam integriert werden, überlappen sich die Bereiche des Übernatürlichen und des Natürlichen in fruchtbarer Weise, auch wenn sie sich nicht vermischen. Was wiederum an Jesus erinnert.
Er sagt über sich selbst: „Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ (Lk 19,10). Das ist sein übernatürlicher Auftrag. Und er vollzieht ihn als „Menschensohn“, denn er war „Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2,6 – 8). Hier berühren wir das Geheimnis der Inkarnation des Wortes Gottes. Im Menschen Jesus von Nazareth begegnen wir dem allmächtigen Gott. So gesehen ist im Christentum alles natürlich übernatürlich und vor allem ein Grund zur Freude. „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“. (Röm 5,5)
Bleiben wir bei der Freude: Unmittelbar nach dem Pfingstereignis wird gespottet: „Sie sind vom süßen Wein betrunken“ (Apg 2,13). Petrus reagiert: „Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint.“ (Apg 2,15). Und rund 300 Jahre später ergänzt Cyrill von Jerusalem diese Schriftstelle kommentierend: „Sie sind nicht betrunken, wie ihr meint. Sie sind zwar trunken, aber mit einer nüchternen Trunkenheit, die die Sünde tötet und dem Herzen Leben schenkt.“
Ausgelassene Freude, die von Gott kommt, weil Seine übernatürliche Liebe in unsere natürlichen Herzen ausgegossen ist. Ausgelassene Freude aus dem Bewusstsein und der Erfahrung heraus, dass wir geschaffen, also gewollt, erlöst und geliebt sind. Ausgelassene Freude, die sogar als Trunkenheit fehlinterpretiert wird, weil sie auffällig ist. Sollte nicht gerade das eines der großen übernatürlichen Geschenke des Christentums an die Welt sein? Natürlich! Schließlich heißt es auch im Weihnachtsevangelium: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll.“ (Lk 2,10)