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Zehen, die an Engel stoßen
Am Horn von Afrika spuken Dschinns, kämpfen mit Engeln und werden nicht nur in Träumen von einem guten Hirten in Zaum gehalten.
von Rachel Pieh Jones
Donnerstag, 11. Dezember 2025
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So schreibt annie dillard in ihrem Text In der Zwischenzeit: „Wir erwachen, wenn überhaupt, zu Geheimnissen, Gerüchten über Tod, Schönheit, Gewalt ... Wir verbringen die Hälfte unseres Wachlebens und unser gesamtes Schlafleben in privaten, nutzlosen und unempfindlichen Gewässern, die wir nie erwähnen oder in Erinnerung behalten ... Wir verpassen die Engel, wir stempeln die Stechuhr, wir kaufen Lebensmittel ein, wir fahren Auto, wir trocknen das Geschirr und wir stoßen uns die Zehen am Bordstein. Wir stoßen uns die Zehen an Engeln.”
Irgendwie verlieren wir unsere Fähigkeit zum Staunen. Wir stoßen uns die Zehen an Engeln und merken es nicht einmal. Wir stehen nicht mehr einfach nur sprachlos am Rand des Grand Canyon, sondern wenden uns ab, um ein Selfie zu machen. Wir halten selten inne, um aufzublicken und eine Sternenkonstellation zu suchen. Wir glauben nicht mehr daran, dass wir von Engeln umgeben sein könnten, und wenn wir es doch glauben, denken wir nicht daran.
Ich lebte über 20 Jahre lang am Horn von Afrika, wo Wunder, Engel und das Unerklärliche erwartet, ja sogar vorausgesetzt werden. Die Vorstellung, dass sich die spirituelle Welt mit der physischen Welt überschneidet, ist eine Selbstverständlichkeit. Die unsachgemäße Entsorgung meiner abgeschnittenen Fingernägel machte mich anfällig für Flüche. Wenn ich nachts nicht aufpasste, wo ich in die Hocktoilette trat, konnte ich auf einen Dschinn treten, einen schelmischen Dämon, der mir einen Ausschlag verpassen konnte. Der Ausschlag konnte geheilt werden, indem man Worte aus dem Koran auf ein Stück Papier schrieb, dieses in Wasser aus dem Zamzam-Brunnen in Mekka wusch und das Wasser unter den wachsamen Augen eines Scheichs trank.
Somalische Babys haben oft bitter riechende Kräuter um ihre Knöchel und Handgelenke gebunden, um die Dschinn fernzuhalten. Mütter zeichnen mit Kohle eine dunkle Monobraue über die Augen ihrer Babys, um zu verhindern, dass die Dschinn neidisch auf das süße Baby werden. Außerdem verhindert dies, dass Menschen dem Baby Komplimente machen, was ebenfalls die unerwünschte Aufmerksamkeit der schelmischen Dämonen auf sich ziehen könnte. Wenn jemand im Haus krank ist, bereitet ein Familienmitglied Popcorn und Kaffee zu, stellt beides unter das Bett und wartet, bis die Dschinn satt sind.
Somalischer Hirte. Fotos von Eric Lafforgue. Verwendet mit Genehmigung.
Diese Ansichten werden nicht als magisch angesehen und auch nicht als „Volksislam“ im modernen theologischen Sinne von Orthodoxie und Synkretismus betrachtet. Sie sind Teil der gelebten religiösen Praktiken meiner somalischen Freunde, die sich selbst als gläubige und fromme Muslime betrachten. Sie leben in einer Welt voller Unerklärlichem, von wundersamen Heilungen über wahrsagende Träume bis hin zu unerfindlichen Krankheiten. Sie leben auch in einer Welt tiefer und geschätzter Überzeugungen über Gott und darüber, wie man Gott ehrt.
Es schwelen jedoch grundlegende Fragen, neben der Überzeugung, dass Engel und Teufel real sind und aktiv in unser Leben eingreifen. Ist Gott ebenso aktiv und involviert? Wo ist Gott, wenn Schmerz in unser Leben eindringt? Ist Gott nah oder fern? Erkennbar und wissend oder undurchsichtig und geheimnisumwittert? Kümmert sich Gott um uns, während wir über sein Wirken in der Welt staunen?
Ich stellte mir dieselben Fragen wie meine muslimischen Freunde. Als die siebenjährige Schwester eines Mitglieds meines Laufclubs plötzlich starb, war Gott da? Als der Sprachlehrer meines Mannes an einer heilbaren Niereninfektion starb, kümmerte das Gott?
Als an der Grenze zu Äthiopien Krieg ausbrach und sexuelle Gewalt an der Tagesordnung war, wo waren die Engel? Es erschien mir absurd, dass Menschen in einer Welt voller Engel leben und einander dennoch so grausam behandeln konnten. Zusammen mit meinen somalischen Freunden rang ich damit, gleichzeitig solch ein Staunen und Entsetzen zu empfinden.
Amina besuchte ihre Schwester Zaynab (Namen wurden geändert) in der Nacht.... vor ihrem Tod im Krankenhaus. Niemand wusste, was mit ihr los war. Sie hatte Fieber und war kaum noch bei Bewusstsein. Hatte sie AIDS? Tuberkulose? Eine seltene Form von Malaria, die mit den verfügbaren Tests nicht nachweisbar war?
„Ich sehe Engel“, flüsterte sie Amina zu.
Amina hielt ihre dünne, feuchte Hand und fragte sich, ob sie vielleicht Dämonen sah, nicht Engel. Was wollten sie von ihrer geliebten Schwester? Amina und Zaynab, junge Erwachsene, waren fast gleich alt. Als Kinder wurden sie für Zwillinge gehalten. Damals waren sie Komplizinnen gewesen. Zaynab lenkte die Verkäufer ab, während Amina Bananen entwendete. Gemeinsam durchsuchten sie freitags die vor der Moschee zurückgelassenen Schuhe, um sich gegenseitig das beste Paar auszusuchen, oder spannten eine Schnur über die Straße, um Schüler auf dem Weg zur Schule zu Fall zu bringen.
Amina gefiel es nicht, wie Zaynab über diese Engel sprach. Geheimnisvolle Wesen aus Licht, die niemand sonst sehen konnte. Es gefiel ihr nicht, aber sie glaubte ihr, und sie machten ihr Angst.
Zaynab wollte nicht, dass ihre Geschwister ins Krankenhaus kamen. Sie sagte, sie habe genug Besucher, Menschen in glänzender Kleidung, schön und sauber, die behaupteten, ihre wahren Brüder und Schwestern zu sein. Natürlich kam Amina, um sie zu besuchen, wann immer sie konnte. Sie sah, wie sie immer schwächer wurde. Gleichzeitig spürte sie, dass Zaynab Frieden gefunden hatte, obwohl es ein seltsamer Frieden war, da ihr Körper und ihr Geist versagten.Nach Zaynabs Tod manifestierte sich Aminas Trauer in Wut, und sie richtete diese Wut gegen Gott. Zaynab hatte gesagt, die Engel, die sie gesehen hatte, hätten ihr gesagt, dass Gott sie liebte und dass Gott auch Amina liebte. Wenn Gott sie liebte, warum ließ Gott Zaynab sterben und sie in ihrer Trauer ersticken? Wenn Gott sie liebte, warum schlugen ihre Verwandten sie dann? Wenn Gott sie liebte, warum bestand ihr Vater dann darauf, die Geister zu besänftigen, mit Opfergaben, die sie sich nicht leisten konnten, während Amina und ihre Geschwister vor Hunger weinend zu Bett gingen?
Es gab eine Zeit, in der Amina überhaupt nicht an Gott glaubte, geschweige denn an einen liebenden Gott. Als Somalierin geboren zu werden bedeutete, als Muslimin geboren zu werden; die ersten Worte, die einem Säugling ins Ohr geflüstert wurden, waren die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis, und ihre frühesten Erinnerungen waren der Ruf zum Gebet, Verwandte, die sich auf ihren Teppichen niederwarfen, der Name Gottes auf den Lippen aller Menschen um sie herum. Muslimin zu sein bedeutete Amina persönlich nicht viel; sie kannte Gott nicht und erlebte Gott nicht als liebevoll. Für sie war Religion Ritual und Identität, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und ethisches Leben. Technisch gesehen war sie Muslimin, aber für sie hatte dieser Glaube keine Bedeutung.
Amina glaubte nicht an die Kraft von Fingernägeln oder das Blut von Schafen und Ziegen. Sie glaubte an nichts, und Zaynabs Tod verstärkte ihren Unglauben. Das letzte bisschen des Gefühls, mit einem wohlwollenden, wenn auch abwesenden Gott verbunden zu sein, war durch Angst ersetzt worden. Wo ihre Schwester Engel gesehen hatte, begann Amina dunkle Bestien zu sehen. Sie wusste nicht, wie sie sie nennen sollte. Sie waren unheimlicher als Dschinn. Sie schwebten nachts in den Ecken ihres Schlafzimmers und warteten vor dem Badezimmer auf sie.
Somalische Frau. Fotos von Eric Lafforgue. Verwendet mit Genehmigung.
Bei der Arbeit traf Amina eine freundliche Frau, die ihre Angst und ihren Schmerz zu spüren schien. Langsam entwickelte sich eine vorsichtige Freundschaft zwischen ihnen. Amina fasste nicht leicht Vertrauen, aber diese Frau, die eine sanfte Zuversicht ausstrahlte, die sich von Aminas nervösem Stolz unterschied, faszinierte sie. Die Frau sprach viel über Jesus und schien furchtlos zu sein. Schließlich fasste Amina den Mut, ihre neue Freundin zu fragen, ob sie jemals dunkle Bestien im Badezimmer sah oder auf dem Dach schweben und in Ecken kauern. „Nein“, sagte die Frau. „Du solltest Jesus bitten, dich zu beschützen.“
„Lächerlich“, dachte Amina. Doch als sie das nächste Mal in der Nacht auf die Toilette musste, dachte Amina an Jesus. Sie betete nicht, bat nicht um Schutz, sondern dachte nur an Jesus. Sie stand auf und schlich zum Badezimmer. Das Licht war wegen eines weiteren Stromausfalls ausgegangen, aber unter der Tür schien ein goldener Streifen hervor. Amina stieß die Tür auf. Sie suchte den Raum schnell nach Bestien ab. Nichts.
Einige Wochen später brachte ein weiterer Stromausfall Amina dazu, auf dem Dach zu schlafen, in der Hoffnung, dort wenigstens einen Hauch von Wind zu spüren, der ihr Erleichterung von der unerbittlichen Hitze verschaffen würde. Sie schlich die Treppe hinauf, klammerte sich fest an das Aluminiumgeländer und fürchtete, auf dem Dach einer Bestie zu begegnen. Sie stieß die Dachluke mit der Schulter auf und blinzelte angesichts des plötzlichen hellen Lichts.
Leuchtende Wesen, größer als alle Menschen, denen sie jemals begegnet war, standen an jeder Ecke. Sie strahlten ein Licht aus, das das gesamte Dach beleuchtete, aber nichts darüber hinaus. Amina schnappte nach Luft. Sofort verschwand ihre Angst. Sie rollte sich auf einer dünnen Matratze zusammen und schlief ein.
Ihr Schlaf war unruhig und voller Träume. Leuchtende Wesen und dunkle Bestien huschten um sie herum. Amina lief verzweifelt vor einer Schreckensvision nach der anderen davon. Dann erschien eine Frau und Angst durchflutete Aminas Körper. Es war Dhegdheer, die Kannibalin aus der somalischen Sagenwelt. Sie hatte ein großes Ohr und riesige Füße, so konnte sie Kinder aus großer Entfernung hören und ihnen schnell nachjagen. Wenn Dhegdheer jemanden erwischte, verschlang sie ihn.
Die Frau begann, Amina zu verfolgen. Amina rannte. So schnell und so weit, dass ihre Füße zu bluten begannen. Sie rannte durch die ganze Stadt und brach schließlich zusammen, zitternd vor Angst und Erschöpfung. Sie hörte Dhegdheer näher kommen, ihre Füße schlugen gegen den steinigen Boden. Amina sank auf die Knie. Sie war müde. Müde vom Laufen. Müde von der Angst. Müde von der Wut.
„Soll sie mich doch fressen“, dachte sie. „Dann kann ich mich ausruhen.“
Plötzlich erschien ein Mann. Er sah aus wie ein somalischer Hirte, war aber ganz in Weiß gekleidet. Er hatte einen Stab, trug Ledersandalen und einen Ziegenmilchbeutel über der Schulter.
„Hör auf zu rennen, Amina“, sagte der Mann.Woher kannte er ihren Namen?
„Komm zu mir. Ich werde dir Ruhe verschaffen. Du bist in Sicherheit.“
„Aber Dhegdheer wird mich fressen“, sagte Amina.
„Wo ist Dhegdheer jetzt?“
Amina schaute hinter sich, aber die Frau war verschwunden. Stattdessen stand dort eine Schafherde. Er musste ein sehr guter Hirte sein, um so viele Schafe so sauber, so gut genährt und sicher zu halten, sogar vor dieser bösen Frau.
„Möchtest du eines meiner Schafe sein, Amina?“
Amina erwachte.
Die leuchtenden Wesen waren aus den Ecken des Daches verschwunden. Amina sah sie nie wieder. Auch die dunklen Bestien und Dhegdheer sah sie nie wieder. Den Hirten traf sie jedoch in mehreren weiteren Träumen wieder.
Wenn Menschen meinen Mann Tom fragen, warum er Jesus nachfolgt, erzählt er ihnen von einem Traum, den er hatte, als er 20 Jahre alt war, bevor wir heirateten. Als er sich entschied, Jesus nachzufolgen, betete Tom, dass Gott ihm nicht erlauben möge, die Tür zum Glauben zu verschließen. Dann lebte er weiter wie zuvor, ohne sich großartig zu verändern. Eines Nachts träumte er, dass er versuchte, eine Tür hinter sich zu schließen, aber sie ließ sich nicht schließen. Er schlug die Tür immer wieder zu aber ohne Erfolg. Er drehte sich um, um zu sehen, was die Tür blockierte, und da stand Jesus und fing jeden Schlag mit seinem Körper ab. Tom glaubt, dass Gott in diesem Traum direkt zu ihm gesprochen hat, und wenn ich ihn von diesem Traum erzählen höre, kommen mir zwei Gedanken.
Erstens: Wirklich? War es wirklich Gott, der direkt zu einem 20-jährigen katholischen Studenten der Luft- und Raumfahrttechnik an der University of Minnesota sprach? Oder waren es Verdauungsprobleme? Ein Bier zu viel? Seine überaktive Fantasie? Woher wusste er, dass es Gott war, und woher wusste er, dass er persönlich gemeint war, und woher erkannte er die Bedeutung?
Zweitens: Warum nicht ich? Ich stimme der Interpretation meines Mannes zu, sowohl was die Botschaft betrifft als auch die Tatsache, dass es Gott war, der sprach. Ich habe beobachtet, wie sich sein Leben nach dieser Erfahrung wandelte, und er ist nicht von seiner anfänglichen Überzeugung abgewichen, dass er Jesus in Wort und Tat nachfolgen sollte. Aber wenn Gott durch Träume und Visionen spricht, warum habe ich dann keine Träume und Visionen erlebt? Das ist eine egoistische Frage und theologisch einschränkend, weil sie mich zur Skepsis verleitet.
War der Traum meines Mannes Gottes Stimme? In Hiob 33,14–17 heißt es:
Denn einmal redet Gott und zweimal,
man achtet nicht darauf.
Im Traum, im Nachtgesicht,
wenn tiefer Schlaf auf die Menschen fällt,
im Schlummer auf dem Lager,
da öffnet er der Menschen Ohr
und schreckt sie auf durch Warnung,
um von seinem Tun den Menschen abzubringen,
den Hochmut aus dem Manne auszutreiben.
Wenn ich behaupte, dass Gott nicht auf diese Weise spricht, weil Gott nicht auf diese Weise zu mir spricht, oder dass Gott keine Wunder vollbringt, weil ich keine Wunder erlebt habe, dann beschränke ich Gott auf die Grenzen meines Lebens. Ich behaupte damit, dass Gottes Fähigkeiten bei meiner Wahrnehmungsfähigkeit enden.
Als ich amina zum ersten Mal traf, hatte sie den guten Hirten noch nicht kennengelernt. Sie war warmherzig und freundlich, aber ich spürte auch eine gewisse Zurückhaltung. Ihr Lächeln verschwand schnell, und ihre Augen fixierten einen Punkt über meinem Kopf, wenn wir uns unterhielten. Ich nahm an, sie sei zurückhaltend oder zerstreut und lag in beiden Fällen falsch. Was ich für Schüchternheit hielt, war Trauer: Ihre Schwester war kürzlich verstorben. Was ich für Konzentration auf ihre Aufgabe und Vermeidung von Gesprächen hielt, war eine allgegenwärtige Angst, die sich seit dem Tod ihrer Schwester in ihr festgesetzt hatte.
Als wir uns besser kennenlernten und Vertrauen zueinander aufbauten, erzählte Amina mir nach und nach Teile ihrer Geschichte. Wie bei meinem Mann beobachtete ich ihre Verwandlung im Laufe der Zeit. Es dauerte fünf Jahre bis Aminas Trauer nachließ und ihre Angst sich in Zuversicht verwandelte. Die tröstenden Worte einer Kollegin mögen eine Tür geöffnet haben, aber es bedurfte auch Visionen, Träume und eines Hauches des Himmels. Ich lernte, dass Glaube nicht nur Gewissheit dessen ist, was wir nicht sehen können, sondern auch die Gewissheit, dass das, was wir nicht sehen können, zum richtigen Zeitpunkt geschieht, und die Gewissheit, dass andere sehen, was wir nicht sehen können. Der Glaube wird durch das gestärkt, was die Gemeinschaft teilt.
Die Träume und Visionen meines Mannes und Aminas sind nicht nur für sie allein bestimmt. Sie sind für den gesamten Leib Christi bestimmt. Indem ich lerne, die Geschichten anderer als Teil von Gottes Wirken in der weiten, wundersamen Welt in meinem Leben willkommen zu heißen, lerne ich wieder zu staunen und nicht auf Konkretem und Greifbarem zu bestehen. Ich stoße mir die Zehen an Engeln.