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Besessen und befreit
In Möttlingen, einem kleinen Ort im Schwarzwald, ereignete sich im 19. Jahrhundert ein großes Wunder.
von Charles E. Moore
Donnerstag, 11. Dezember 2025
Verfügbare Sprachen: English
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Beim durchstöbern eines Bücherregals in der persönlichen Bibliothek meines Professors entdeckte ich eine dünne Broschüre mit dem Titel Blumhardts Kampf. Das machte mich neugierig, denn Karl Barth berief sich oft auf Johann Christoph Blumhardt.1 Aber die Broschüre war bloß ein weiterer schauerlicher, sensationslüsterner Exorzismus-Bericht. Das war bestimmt nicht derselbe Blumhardt. Oder vielleicht doch?
Bei näherer Nachforschung stellte sich heraus: Es war derselbe Blumhardt – derjenige, der nicht nur Barth beeinflusst hatte, sondern auch Emil Brunner, Oscar Cullmann, Jacques Ellul und Jürgen Moltmann.2 Dieser bescheidene schwäbische Pfarrer aus dem 19. Jahrhundert sollte später auch ganz unterschiedliche Bewegungen beeinflussen: den religiösen Sozialismus, die Neoorthodoxie, die charismatische Bewegung und den Bruderhof.
Es waren die 1980er Jahre, und die New-Age-Bewegung war in vollem Gange. Ebenso die dritte Welle der Pfingst- und Charismatischen Bewegung. Viele christliche Gruppen, auch in meinem Umfeld, berichteten von Wunderheilungen, Prophetie und Begegnungen mit dämonischen Mächten. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Ich glaubte an Wunder, an die Kraft und Gaben des Heiligen Geistes und dass finstere Mächte Menschen oft in Sünde und Krankheit gefangen halten. Aber ich war auch misstrauisch, ob diese „geistlichen“ Realitäten nicht von der Christusnachfolge ablenken oder gar gefährlich sein könnten. Würde Blumhardt mir zu etwas Durchblick verhelfen können? Ich wollte unbedingt mehr über das erfahren, was er tatsächlich erlebt hatte.3
Im sommer 1838 wurde Johann Christoph Blumhardt nach Möttlingen berufen, einem kleinen Schwarzwalddorf im Königreich Württemberg, um seine erste volle Pfarrstelle anzutreten. Blumhardt gewann rasch das Vertrauen von Jung und Alt, aber die Gemeinde war geistlich erstorben. Er gab sich alle Mühe, aber es änderte sich einfach nichts. Schließlich begann auch Blumhardt zu ermüden.
Im Herbst 1841 wurde Blumhardt jedoch in das hineingezogen, was als „der Kampf“ bekannt werden sollte. Gottliebin Dittus, eine kränkliche, in der Gemeinde aktive junge Frau, fing an, sich seltsam zu benehmen. Nach dem Bericht von Blumhardts Zeitgenossen und Biografen Friedrich Zündel war Gottliebin schon als Kind von allerlei magischen Praktiken umgeben, die Verwandte und Bekannte von Gott weg und in die Abhängigkeit von dunklen Mächten führten. Viel wurde getuschelt über gespenstische, ja dämonische Begebenheiten, die sich in Gottliebins Nähe zutrugen. Viele Menschen, darunter auch Blumhardt, fanden sie unangenehm: Ihr Verhalten hatte etwas Abstoßendes und Rätselhaftes, ihr Wesen etwas Bedrohliches.
Foto von Tom Dick / Unsplash. Mit Genehmigung verwendet.
Gottliebin wohnte mit ihren Schwestern Anna Maria und Katharina sowie ihrem Bruder Johann Georg in der unteren Wohnung eines heruntergekommenen, schmalen Hauses.4 Nach und nach zogen weitere Familienmitglieder in das Haus und lebten dort in bitterer Armut. In dem Gebäude hörte man unerklärliche Klopfgeräusche und scharrende Laute. Hinzu kam, dass Gottliebin häufig bewusstlos zusammenbrach und des Nachts Erscheinungen und Lichtphänomene wahrnahm. Die Familie sprach mit niemandem darüber.
Von April 1842 an erhielt Blumhardt ausführliche Berichte über die Anwesenheit von Poltergeistern, Klopfgeräuschen und anderem Lärm im Haus, der so laut wurde, dass er nicht mehr geheim gehalten werden konnte. Gottliebin sah häufig die Gestalt einer Frau, die zwei Jahre zuvor verstorben war und ein totes Kind bei sich trug. Blumhardt warnte Gottliebin davor, sich auf ein Gespräch mit der Frau einzulassen. „Gewiss sei,“ sagte er, „dass man in entsetzliche Verwirrungen und Torheiten geraten könne, wenn man mit der Geisterwelt sich einlasse.“ Im Haus entdeckte man merkwürdige Dinge: Kreide, Salz, Knochen, Münzen, verbranntes Papier – Materialien, die für magische und abergläubische Heilpraktiken verwendet wurden. Blumhardt war vorsichtig.
Da er überzeugt war, dass die „Geisterwelt“, mit der Gottliebin in Verbindung stand, gottlos und dämonisch war, begann er inständiger zu beten. Die Geräusche wurden aber immer lauter – so laut, dass das ganze Dorf aufmerksam wurde. Man hörte laute Schläge und Klopfgeräusche, die oft vom Boden bei Gottliebins Bett kamen. Einmal verfiel Gottliebin in derart heftige Krämpfe, dass Dr. Späth, der behandelnde Arzt, unter Tränen zu Blumhardt kam: „Man sollte meinen, es sei gar kein Seelsorger im Orte, dass man die Kranke so liegen lässt, das ist nichts Natürliches!“ Blumhardt erzählte einem herrenhutischen Missionar von alledem, der ihn nachdrücklich daran erinnerte, seine Schuldigkeit als Seelsorger dem Mädchen gegenüber nicht zu vergessen.
Blumhardt sah sich gezwungen einzugreifen. Nach einem Besuch schreibt er:
Als ich einmal mit Dr. Späth bei ihr war, zitterte ihr ganzer Leib; jeder Muskel an Kopf und an den Armen war in glühender Bewegung, wiewohl sonst starr und steif, dabei floss häufig Schaum aus ihrem Munde; so lag sie schon mehrere Stunden da und der Arzt, der nichts Ähnliches erfahren hatte, schien ratlos zu sein. Da erwachte sie plötzlich, konnte sich aufrichten, Wasser trinken, und kaum konnte man es glauben, dass sie die nämliche Person wäre.
Gottliebin war eindeutig verstört, und als sie angegriffen wurde, wurde sie extrem gewalttätig. Furchtbare Stimmen, die Gott verfluchten und lästerten, drangen aus ihr hervor, begleitet von verzweifelten Bekenntnissen längst vergangener Sünden und teuflischer Bosheit. Darüber hinaus verfolgte sie immer noch die Erscheinung der verstorbenen Frau. Blumhardt erzählt, was sich während eines Besuchs ereignet hatte:
Als ich nun hinging, hörte ich das Klöpfeln, Gottliebin lag ruhig im Bette; plötzlich war’s als führe es in sie und ihr ganzer Leib geriet in Bewegung. Ich sprach sodann einige Worte als Gebet und erwähnte dabei des Namens Jesu. Sogleich rollte sie die Augen, schlug die Hände auseinander und eine Stimme ließ sich hören, die man augenblicklich für eine fremde erkennen musste, nicht sowohl wegen des Klanges, als wegen des Ausdrucks und der Haltung in der Rede. Es rief: „Den Namen kann ich nicht hören.“ Alle zusammen schauderten.
Zwei Jahre lang besuchte Blumhardt Gottliebin regelmäßig und nahm diskret vertraute Freunde und Zeugen mit, einschließlich Dr. Späth. Nach und nach gelangte Blumhardt zu der Überzeugung, dass der Geist, der Gottliebin heimsuchte, eine verstorbene Seele in der Gewalt des Teufels sei. Trotzdem wollte er nicht den Exorzisten spielen, was bedeutet hätte, merkwürdige Formeln, Rituale und Gegenstände wie Kruzifixe zu benutzen. Diese Methoden fand er abergläubisch und bezeichnete sie als „gottlose Wundermacherei“, die alles nur noch schlimmer machen würde. Stattdessen verließ er sich ausschließlich auf Gebet, Fasten und die Heilige Schrift.
Foto von Peter Herrmann / Unsplash. Mit Genehmigung verwendet.
Schließlich war Blumhardt davon überzeugt, dass unzählige Dämonen von Gottliebin Besitz ergriffen hatten und durch sie in bekannten und unbekannten Sprachen Gotteslästerungen ausstießen. Er weigerte sich, mit ihnen zu sprechen und befahl ihnen zu schweigen, was sie auch taten. Doch der Kampf wurde immer heftiger, sodass Gottliebin sogar versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie litt furchtbar, verlor viel Blut und musste sich fortlaufend übergeben. Berichten zufolge traten Gegenstände aus ihrem Körper hervor.
Schließlich kam der Kampf um Gottliebins Seele und Körper zum Höhepunkt. Blumhardt beschreibt den entscheidenden Moment wie folgt:
Unter diesen Gedanken erfasste mich eine Art Ingrimm und plötzlich kam’s über mich und ich kann nicht anders als bekennen: es war eine Anregung von Oben, ohne dass ich’s eben jetzt dachte. Mit festen Schritten trat ich vor . . . , fasste die starrkrämpfigen Hände (was ich hätte lassen können, denn sie fühlte nachher Schmerzen davon), um sie möglichst zusammenzuhalten, rief ihr in ihrem bewusstlosen Zustande ihren Namen laut in’s Ohr und sagte: „Lege die Hände zusammen und bete: Herr Jesu hilf mir! Wir haben lange genug gesehen, was der Teufel tut, nun wollen wir auch sehen, das der Herr Jesus vermag.“ Nach wenigen Augenblicken erwachte sie, sprach die betenden Worte nach und alle Krämpfe hörten auf zum großen Erstaunen der Anwesenden. Dies war der entscheidende Zeitpunkt, der mich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Tätigkeit für die Sache hineinwarf …
Doch der Kampf ging weiter. Beide Geschwister von Gottliebin begannen ähnliche dämonische Angriffe zu erleben. Erschöpft machte Blumhardt weiter, denn er spürte, dass ein Durchbruch bevorstand. Das Ende des Kampfes kam in den Weihnachtsferien 1843. Nachdem er mit anderen 40 Stunden lang am Bett von Gottliebins Schwester Katharina gewacht hatte, war die letzte Schlacht geschlagen. Die dämonischen Geister, die Katharina bedrängten, heulten so laut, dass, so Blumhardt, „die Bewohner des Dorfes sie hörten.“ Zündel schreibt:
Um zwei Uhr Morgens brüllte der angebliche Satans-Engel, wobei das Mädchen den Kopf und Oberleib weit über die Lehne des Stuhles zurückbog, mit einer Stimme, die man kaum bei einer menschlichen Kehle für möglich halten sollte, die Worte heraus: „Jesus ist Sieger! Jesus ist Sieger“! Worte, die, so weit sie ertönten, auch verstanden wurden, und auf viele einen unauslöschlichen Eindruck machten.
Der Kampf war vorbei. Die rätselhaften Phänomene und körperlichen Leiden hörten auf, und Gottliebin selbst war wie verwandelt. Die Veränderung war so dramatisch, dass Blumhardt oft von ihrer wertvollen Arbeit sprach und ihre besondere Gabe pries, Kinder mit Verständnis, Liebe und Geduld zu betreuen. Später wurde sie festes Mitglied seines Haushalts.
Blumhardts Bemühungen, die Sache geheim zu halten, scheiterten. Sein ausführlicher Bericht über Gottliebins Krankheit (und ihre Heilung) an die Kirchenleitung wurde geleakt und veröffentlicht. Niemand weiß, wer dafür verantwortlich ist und was das Motiv war, aber es könnte ein Versuch gewesen sein, Blumhardt lächerlich zu machen. Er und Zündel schrieben daraufhin einen öffentlichen Bericht als Teil einer umfassenderen Biografie, um die Ereignisse im Kontext des christlichen Glaubens zu erklären.
Der Schlachtruf „Jesus ist Sieger!“ prägte von da an Blumhardts Wirken. Doch der Kampf war nur der Anfang: Ein unerwartetes geistliches Erwachen, das sich „lawinenartig“ ausbreitete, wie Dieter Ising in seiner Blumhardt-Biografie schreibt, erfasste die ganze Region.
Die ersten zeichen dieses Erwachens wurden in der Neujahrswoche 1844 sichtbar. Gottliebins neu gewonnene Freiheit brachte radikale Veränderungen in der Geisterwelt mit sich, die wiederum die geistlichen Fesseln der Menschen in Möttlingen aufbrachen. Möttlingen wurde zu dem Ort, an dem ein neues Fundament für das Reich Gottes gelegt wurde – einem Ort, wo die gesamte Kirchengemeinde eine unglaubliche Verwandlung erfuhr.
Foto von Gidon Wessner / Unsplash. Mit Genehmigung verwendet.
Die jungen Leute begannen, sich zum Bibelstudium zu treffen. Der im Dorf wohlbekannte Schneider Johann Georg Fischer kam wiederholt zu Blumhardt, um seine Sünden zu bekennen. Ohne dass Blumhardt es wusste, begann er, andere zu ermutigen, dasselbe zu tun. Nach und nach kam die gesamte Gemeinde zu Blumhardt. Es war wie ein Dammbruch, gefolgt von einer Flut von Reue und Vergebung. Blumhardts Frau beschrieb diese Zeit in einem Brief an ihre Eltern: „Es ist eine Beugung, eine Demut, eine Bereitwilligkeit, ein Feuer und Glühen der Liebe zum Heiland bei denen, die ihn einmal gefunden.“
Einer nach dem anderen traf Blumhardt mit den Gemeindegliedern zusammen. Er schreibt:
Täglich habe ich bis Nachts ½12 Uhr noch Leute bei mir, und Morgens 6 Uhr steht schon wieder einer da, und den ganzen Tag geht’s unaufhörlich fort, dass ich an gar nichts anderes mehr denken kann. Gestern verbat ich mir in der Kinderlehre, bei welcher das Schulzimmer gedrückt voll war, die Besuche wegen des Monatsblattes, um so mehr habe ich heute zu erwarten. Wenn’s so fortgeht . . . und doch – was soll ich zu allem sagen? Es geschieht mir auf eine Weise, die ganz über all mein Denken geht. Sind doch schon jetzt im Ganzen 156 Personen gekommen, alle mit Bußtränen, wenn nicht das erste, so doch das zweite und gewiss das dritte Mal. Wie ich auskomme, ist mir selbst ein Rätsel.
In der Beichte hörte Blumhardt eine Litanei der Sünden, die begangen worden waren: abergläubische Heilpraktiken, Versuche, mit den Geistern der Toten zu sprechen, Unzucht, Ehebruch, Inzest, sexuelle Handlungen mit Tieren, Diebstahl und sogar Mord. Er sah, wie „Heimlichkeit die Macht der Sünde ist“, erlebte aber auch selbst, wie Sünden, die ans Licht kommen, weggenommen werden und die Seele völlig frei wird. „Buße und Glauben an Christum den Gekreuzigten war die Angel, um die sich alles bewegen musste“, schrieb er. Obwohl Blumhardt von all dem Elend, das zutage kam, erschüttert war, legte er den reuigen Menschen im Gehorsam gegenüber dem Evangelium die Hände auf und sprach ihnen im Namen Jesu Vergebung und Mut zu.
Bei all dem war Blumhardt voller Ehrfurcht, getröstet durch die Gewissheit: „Jesus ist Sieger!“ Hierin lag das wahre Wunder, das sich vor ihm ereignete. Jesu Sieg war nicht nur ein Ereignis auf Golgatha – er wirkte unmittelbar in ihrer Mitte. „Was ich tat, war nichts von mir Gesuchtes, Erzwungenes, Gemachtes, sondern etwas rein von selbst sich Ergebendes, ja ohne meine Bitte aus unverdienter Barmherzigkeit mir Gewordenes.“ Selbst die frommen und geachteten Gemeindeglieder kamen schließlich zur Beichte – auch wenn sie nicht die ersten waren. Ehen wurden wiederhergestellt, gestohlenes Eigentum zurückgegeben, Feinde versöhnt, Alkoholismus überwunden und Gewissenskonflikte geheilt.
Von Schläfrigkeit war in Blumhardts Gemeinde nichts mehr zu spüren. Seine Konfirmandengruppe traf sich nun täglich zu Gebet, Singen und Bibelstudium. Immer mehr Gemeindeglieder trafen sich in Häusern, um dasselbe zu tun. Blumhardt sorgte zwar dafür, dass diese Treffen unter einer gewissen Aufsicht stattfanden, hielt sich aber mit Einflussnahme zurück. Er achtete lediglich darauf, dass es „keine schwärmerischen Exzesse“ gab, die zu geistlichem Stolz führen würden.
Möttlingen, mit Blumhardts Pfarrhaus (weißes Haus) und Pfarrkirche. Foto mit freundlicher Genehmigung von Bruderhof Historical Archives.
Still und leise kamen unerwartete Besucher aus der ganzen Gegend nach Möttlingen. Im April 1844 wird der Schwarzwald, wie Blumhardt es ausdrückte, „feuriger“. An Pfingsten kamen über 2.000 Besucher, in den Wochen danach wuchs diese Zahl auf 5.000. Manchmal schliefen bis zu 250 Männer in der Umgebung des Dorfes, um am nächsten Tag die Predigt des Pfarrers zu hören. Blumhardts Predigten waren jedoch alles andere als feurig. Sie waren ruhig, einfach, klar und ernst – auf keinen Fall ein „öffentliches Bußgeschrei“. Nach den Gottesdiensten wurde das Pfarrhaus von Ortsfremden regelrecht belagert. Blumhardt konnte unmöglich alle empfangen und riet den Menschen einfach, sich Christus zuzuwenden, ihm ganz zu vertrauen und an seine heilende Kraft zu glauben. Unzählige Menschen gingen mit befreitem Herzen nach Hause.
Viele der tausenden, die nach Möttlingen strömten, erlebten körperliche Heilung. Ein Mann mit schwerem Rheuma, eine Dreijährige, die sich am ganzen Körper mit Öl verbrüht hatte, ein Kind mit einer unheilbaren Augenkrankheit, Menschen mit Tuberkulose, Arthritis, Wirbelsäuleninfektionen, Epilepsie, lebensbedrohlichen Krankheiten, Suizidgedanken und psychischen Störungen wurden geheilt.
Solche Heilungen gehörten bald zum Alltag. Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft und verschiedenen christlichen Konfessionen erfuhren eine Erneuerung und Heilung von Körper und Seele. Aus Blumhardts Perspektive war das zu erwarten gewesen, schließlich war Gottes Reich Realität, und die Mächte der Zukunft wirkten schon jetzt in unserer Mitte.
Bald jedoch sah er sich mit Einwänden der örtlichen Kirchenleitung konfrontiert, wo man über das viele Beichten und die Berichte von Heilungswundern alarmiert und empört war. Doch Blumhardt stellte die Wunder nicht in den Mittelpunkt und lehrte, dass Heilung durch Gebet nicht erzwungen werden könne. Er ermahnte seine Gemeinde sogar oft, die Kranken einfach vor Gott treten zu lassen und hielt Menschen davon ab, ihm ihre Beschwerden zu schildern. „Ihr Kranken, kommt nur in die Kirche und klagt dem Heiland euer Leid, und merkt euch, was gepredigt wird“, pflegte Blumhardt zu sagen. „Meine und der Gemeinde Fürbitte soll es nicht fehlen. Dass ich euer Leid kenne, das ist ja nicht nötig.“ Trotzdem gingen die Kranken geheilt nach Hause und erlebten vor allem innere Erneuerung. Für Blumhardt stand nicht die körperliche Heilung im Vordergrund: „Ach ihr Lieben, in den meisten unserer Gebete wird die Buße vergessen. Wir gehen immer darauf zu bitten; aber wer bist du, der du bittest?“ Gottes neue Schöpfung auf Erden war für Blumhardt das Entscheidende.
Wenn Blumhardt Lob und Anerkennung erhielt, wehrte er energisch ab: „Jesus allein ist Sieger! Er allein ist Herr!“ Blumhardt warnte vor mechanischem Beten, vor festgelegten Segnungsformen und organisierten Erweckungsversammlungen. Der Mensch kann die Angelegenheiten des Geistes nicht lenken. Doch Blumhardt und sein Wirken wurden zunehmend zum Problem für Regierung und Kirchenleitung, die ihm vorwarfen, sich durch die Heilungen in ärztliche Angelegenheiten einzumischen. Sie verboten ihm daher, Gäste über Nacht aufzunehmen, und untersagten ihm schließlich, Besucher unter vier Augen zu empfangen. So wurde Blumhardt allmählich in die engen Bahnen des herkömmlichen Kirchenbetriebs zurückgedrängt. Obwohl er zunehmend isoliert und von Freunden und Vertrauten verlassen war, wirkte Gottes Geist weiter und Blumhardt blieb standhaft.
Fotografiert von Julian Hochgesang / Unsplash. Mit Genehmigung verwendet..
Da sowohl Blumhardts Bekanntheit als auch die Verärgerung der Kirchenleitung ständig zunahm, war klar, dass sich etwas ändern musste. Außerdem konnte die kleine Gemeinde in Möttlingen den Besucherandrang nicht mehr bewältigen. Mit Hilfe von Freunden und Unterstützern gelang es Blumhardt schließlich, das unrentable Kurhaus in Bad Boll mit seinen Schwefelquellen zu erwerben. Im Sommer 1852 zog er mit seiner Familie und vier Mitgliedern der Familie Dittus dorthin, darunter Gottliebin, die inzwischen seine engste Mitarbeiterin geworden war. Menschen aus ganz Deutschland und darüber hinaus, sowohl Gläubige als auch Ungläubige, Skeptiker und Neugierige, kamen, um selbst zu sehen, wovon sie gehört hatten. Bis zu 150 Gäste waren gleichzeitig im Haus.
Wie in Möttlingen fanden auch in Bad Boll häufig innere und äußere Heilungen statt. Auch hier sorgte Blumhardt dafür, dass kein Aufhebens gemacht wurde, und diejenigen, die ihm zum ersten Mal begegneten, waren oft überrascht, wie bescheiden und „ungeistig“ er war. Er wandte sich gegen jeden Versuch, einzelne Gaben des Geistes zu isolieren oder hervorzuheben. Auf diese Weise wurde Bad Boll für unzählige Menschen zu einem Ort der stillen Erneuerung und Gemeinschaft.
Was sollen wir von dem halten, was in Möttlingen und später in Bad Boll geschah? Sind diese Ereignisse auch heute noch relevant? Was können wir über die befreiende Kraft Christi lernen? Für mich persönlich sind Blumhardts Glaube und diese Berichte zu einem Schlüssel geworden, um die unsichtbaren Kräfte zu verstehen, die Menschen und ganze Institutionen gefangen halten.
Zum einen müssen wir vermeiden, was der Missionswissenschaftler Paul G. Hiebert „den Fehler der ausgeschlossenen Mitte“ nannte: die falsche Vorstellung, das Universum bestehe aus zwei getrennten Ebenen: der materiellen Welt hier unten und der geistlichen Welt dort oben. Die Bibel und die Erfahrungen von Möttlingen sowie die anhaltende Kraft der charismatischen und Pfingstbewegung zeigen: Es gibt eine Zwischenwelt, eine unsichtbare Realität, die ursprünglich von Gott ausgeht und nun zum Guten wie zum Schlechten auf unserer Erde wirkt. Dieser Welt gegenüber müssen wir wachsam sein.
Auf der anderen Seite dürfen wir nicht zu neugierig werden, denn diese Welt ist nicht unser Lebensraum hier auf der Erde. Sie ist real, aber Christus ist ihr Herr; wir sollen uns nicht damit beschäftigen oder darin herumexperimentieren. Sie dient Gottes Zielen auf Erden, und wir können nur im Gehorsam zu ihm richtig mit ihr umgehen. Sonst kann sie uns leicht von dem ablenken, was Gott durch uns auf Erden bewirken will. Bei all der heutigen Begeisterung für Geheimnisvolles und Übersinnliches sollten wir nicht vergessen, dass nur Gott retten, erlösen und heilen kann. Er herrscht über das Übernatürliche und überwindet durch Christus und Gebet, was für Menschen unmöglich ist.
Außerdem erinnert uns Blumhardts Geschichte daran, dass wir als Christen die Geister unterscheiden müssen (auch den Zeitgeist) und gegen alle lebensfeindlichen sichtbaren und unsichtbaren Kräfte ankämpfen müssen. Das ist entscheidend, denn wie Paulus schreibt, ist unsere Welt von geistlichen Mächten und Gewalten infiziert und wird von ihnen beherrscht, sei es in Politik, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion oder im persönlichen Leben. Mit menschlichen Mitteln allein können wir niemals das überwinden, was uns wirklich gefangen hält und ins Elend stürzt. Nur durch Umkehr, Vergebung und Gottes Geist können die Bollwerke fallen, die uns unterdrücken und entzweien.
Umso mehr müssen wir uns bemühen, unsere innere geistliche Trägheit zu überwinden. Heilungswunder gibt es wirklich, aber sie sind nur ein Bruchteil dessen, was Christus in unserem Leben vollbringen möchte. Das Wunder von Möttlingen ging weit über die Befreiung der Dittus-Geschwister hinaus. Gottes übernatürliche Kraft war am Werk und brachte alles im Dorf und darüber hinaus in Ordnung. Diese Kraft will uns auch heute von uns selbst befreien, von allem selbstsüchtigen Egoismus, der Gott für eigene Zwecke einspannen will und von den anderen Geistern in unseren Diensten, die uns Erfolg und Sicherheit garantieren und meist viel raffinierter vorgehen als in Möttlingen. Wenn Gottes Gerechtigkeit alles ins Lot bringt, wenn Licht die Dunkelheit durchbricht, dann stehen seine Herrlichkeit und seine Pläne im Zentrum, nicht unsere.
Blumhardt glaubte, dass das, was in Möttlingen geschah, nur ein Anfang war, ein Vorgeschmack auf eine größere Ausgießung des Geistes auf die Kirche und die Welt. Auch wenn die Kirche vielfach kompromittiert und lau geworden ist, sollten wir wie Blumhardt an der Verheißung festhalten, dass der Geist der apostolischen Vollmacht des frühen Christentums uns auch heute zur Verfügung steht und uns in noch größerem Maß geschenkt werden wird. „Wir sind ausgetrocknete Leute“, schrieb Blumhardt einmal, und „es ist ja nur ein kleiner Teil erfüllt gewesen zur Zeit der Apostel.“ Möge mehr von Gottes Geist über uns kommen, damit wir die versöhnende und befreiende Macht Jesu erfahren.
Fußnoten
- Siehe Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Aufl. (München, 1922).
- Der Einfluss Johann Christoph Blumhardts und seines Sohnes Christoph Friedrich auf die spätere Theologie ist in einer Reihe von Monographien und Studien nachgezeichnet worden. Für einen Überblick siehe Vernard Ellers „Who Were the Blumhardts?“ Siehe auch Christian T. Collins Winn, Jesus Is Victor: The Significance of the Blumhardts for the Theology of Karl Barth (Pickwick, 2009); Christian T. Collins Winn und Peter Goodwin Heltzel, „Before Bloch There Was Blumhardt: A Thesis on the Origins of the Theology of Hope“, Scottish Journal of Theology 62, Nr. 1 (2009): 26–39.
- Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf zwei Darstellungen von Blumhardts Leben: Friedrich Zündel, Pfarrer Johann Christoph Blumhardt. Ein Lebensbild (S. Höhr, 1882); und Dieter Ising, Johann Christoph Blumhardt: Leben und Werk (Vandenhoek und Ruprecht, 2002). Diese Berichte beruhen unter anderem auf Blumhardts eigener Krankengeschichte der Gottliebin Dittus, die er auf Bitten der kirchlichen Behörden verfasste.
- Das Haus wurde restauriert und dient als Gedenkstätte für die Geschehnisse in Möttlingen.