My Account Sign Out
My Account
    View Cart

    Subtotal: $

    Checkout
    people standing by a stone wall

    Bhopal heute

    40 Jahre danach leiden die Überlebenden der schlimmsten Chemiekatastrophe immer noch.

    von Cristiano Denanni

    Dienstag, 14. Oktober 2025

    Verfügbare Sprachen: English

    0 Kommentare
    0 Kommentare
    0 Kommentare
      Abschicken

    Ich lernte schnell, die hände meines Gegenübers zu beobachten, denn sie erzählen was an diesem Ort geschehen ist. Die Hände der Kranken, der Überlebenden, der Eltern der Opfer. Die Hände eines Mädchens, das aufgrund der Folgen der Vergiftung ihren rechten Ringfinger und kleinen Finger nicht bewegen kann. Die lebensspendenden Hände von Champa Devi Shukla. Während der Mund spricht, erzählen die Hände, betonen, führen zurück zum Ursprung der Geschichte.

    Die Geschichte handelt von der tödlichsten Chemie- und Industriekatastrophe der Welt: die Tragödie von Bhopal im Bundesstaat Madhya Pradesh in Zentralindien.

    a woman standing with her arms crossed

    Die Tochter eines Überlebendens zeigt ihre Hände. Zwei Finger einer Hand kann sie nicht bewegen. Alle Fotos von Cristiano Denanni. Verwendet mit Genehmigung.

    Ende der 1960er Jahre waren Millionen indischer Bauern auf der Suche nach einem wirksamen und dennoch erschwinglichen Pestizid. Die scheinbare Lösung kam aus den Vereinigten Staaten. Ein multinationales Unternehmen namens Union Carbide witterte eine Chance auf eine Goldgrube in Indien.

    Union Carbide hatte erfolgreich ein Produkt getestet, das die gewünschte Kombination aus Wirksamkeit und Erschwinglichkeit zu bieten schien: Sevin, der Markenname für das Insektizid Carbaryl. Angesichts der Größe des Landes und des Absatzpotenzials war es logistisch und wirtschaftlich sinnvoller, Sevin in Indien zu produzieren, anstatt es aus den Vereinigten Staaten zu exportieren. Als Standort wurde Bhopal ausgewählt und 1969 mit dem Bau einer Fabrik begonnen.

    women standing by a stone wall

    Frauen auf einem Balkon vor den Mauern der stillgelegten Union Carbide Fabrik. Viele der ärmsten Einwohner Bhopals leben immer noch in der kontaminierten Zone.

    Sevin wird aus Methylisocyanat (MIC) hergestellt, einer klaren, farblosen und hochgiftigen Flüssigkeit mit einem stechenden, kohlartigen Geruch. Es ist außerdem leicht entzündlich, reaktiv und wasserlöslich. MIC muss mit äußerster Vorsicht gehandhabt werden und kann ohne weitere Verarbeitung nicht sicher gelagert werden. Selbst die geringste Temperaturänderung oder der Kontakt mit Wasser kann eine chemische Reaktion auslösen, die für Menschen und Tiere tödlich sein kann.

    Schon bei der Planung der Anlage wurden Fehler gemacht. Die Anlage wurde so errichtet, dass im Falle eines Gaslecks die vorherrschenden Winde die Giftstoffe in ein dicht besiedeltes Gebiet tragen würden – die Heimat der ärmsten Einwohner von Bhopal und vieler Arbeiter der Fabrik. Das war nur der Anfang einer Reihe von Fehlern, die die Sicherheit der gesamten Stadt zunehmend gefährdeten. Außerdem wurden wichtige Wartungsarbeiten übersprungen, um Kosten zu sparen.

    black and white photo of two kids on a road

    Kinder spielen in der Nähe eines verseuchten Sees.

    Das erste opffr der fabrik war Ashraf Khan. Er war Leiter eines Teams, das Phosgen – ein Bestandteil von Sevin – herstellte. Ashraf führte am 23. Dezember 1981 eine routinemäßige Wartungsarbeit durch: Er sollte ein defektes Teil zwischen zwei Rohrstücken austauschen.

    Er beging zwei Fehler. Er trug nicht den schweren Gummianzug, der gemäß den Sicherheitsvorschriften vorgeschrieben war. Als er einen kleinen Spritzer flüssiges Phosgen auf seinem Pullover bemerkte, erkannte er die Gefahr und eilte zur Dusche – und beging damit seinen zweiten, fatalen Fehler. Ungeduldig nahm er die Gasmaske ab, bevor der Wasserstrahl den Dekontaminierungsprozess abgeschlossen hatte. Die Wärme seiner Brust verdampfte die Phosgen-Tröpfchen und leitete sie in seine Nasenlöcher. Abgesehen von einem leichten Reizgefühl in Augen und Rachen verspürte Ashraf zunächst keine weiteren Beschwerden.

    Das erste Symptom einer Phosgenvergiftung ist oft ein Gefühl der Euphorie. An diesem Nachmittag teilte Ashraf seiner Frau Sajida Bano und ihren Söhnen Arshad und Shouyer mit, dass er aufs Land fahren wolle, um sich ein Haus anzusehen, das sie kaufen wollten. Sobald er das Haus verlassen hatte, erlitt er einen schweren Atemstillstand, brach zusammen und begann, Blut zu erbrechen. Der Krankenwagen brachte ihn ins Hamidia-Krankenhaus, eine von Union Carbide finanzierte Einrichtung, wo er auf die Intensivstation kam. Seine Qualen dauerten zwei Tage. Das erste Opfer einer Fabrik, die „so harmlos wie eine Schokoladenfabrik“ war, wie ein amerikanischer Unternehmensleiter sie beschrieben hatte, starb am 25. Dezember.

    a woman holding a document

    Eine Überlebende nimmt an der Kundgebung zum 40. Jahrestag der Tragödie teil, 3. Dezember 2024.

    Bis 1984 arbeitete die fabrik nur noch mit einem Viertel ihrer Kapazität, da weit verbreitete Ernteausfälle die Nachfrage nach Pestiziden sinken ließen. Da sie nicht mehr rentabel war, versuchte Union Carbide, die Fabrik vergeblich zu verkaufen.

    Union Carbide war sich bewusst, dass MIC nicht ohne Weiterverarbeitung gelagert werden darf. Dennoch wurden 40 Tonnen MIC in zwei Tanks gelagert. In der Nacht des 2. Dezember 1984 führten Routinearbeiten an einigen nahe gelegenen Wasserleitungen zu einem Leck. Da die Tanks aufgrund vernachlässigter Wartungsarbeiten nicht ordnungsgemäß verschlossen waren, kam das Wasser mit dem MIC in Kontakt. Kurz nach Mitternacht führte die Ansammlung giftiger Gase zum Bersten eines der Sicherheitsventile der Tanks. Innerhalb von Sekunden breitete sich eine giftige Wolke über Bhopal aus. Allein in dieser Nacht starben mindestens 2.259 Menschen, in den folgenden Tagen und Wochen kamen weitere 15.000 bis 20.000 Opfer hinzu, über 500.000 erlitten schwere Vergiftungen. Viele von ihnen leiden noch heute.

    a child waving

    Kinder in den Slums nahe den Zuggleisen, die ärmste Gegend von Bhopal.

    Während der tod tausende Menschenleben in den Stadtvierteln in unmittelbarer Nähe der Fabrik forderte, breitete sich die tödliche Wolke bis zum anderthalb Kilometer entfernten Bahnhof von Bhopal aus. Augenzeugen erinnern sich an erschütternde Szenen: Menschen, die qualvolle Schmerzen litten, deren Augen aus den Höhlen traten, die von Krämpfen geschüttelt wurden und sich übergaben; Leichen, die übereinander lagen; ein Neugeborenes, das an der leblosen Brust seiner Mutter saugte.

    In nur wenigen Minuten würde der Gorakhpur Express eintreffen, vollbesetzt mit Menschen, die zum Ijtema, einer jährlichen muslimischen Gebetsversammlung in der Stadt, unterwegs waren. Der Bahnhofsvorsteher versuchte, den Zug anzuhalten, bevor er den Bahnhof erreichte, wo die Situation bereits apokalyptische Zustände annahm. Mit drei Kollegen ging er die Gleise entlang und winkte mit Taschenlampen, um den herannahenden Zug zu warnen. Der Lokführer sah sie nicht, und ihre einzige verbleibende Möglichkeit war, den Schaffner zu warnen – entweder um den Zug anzuhalten oder zumindest um ihn sofort weiterfahren zu lassen, um die Zahl der Menschen, die der giftigen Wolke ausgesetzt waren, so gering wie möglich zu halten. Diese Bemühungen retteten Hunderte von Menschenleben, aber viele kamen um: Trotz der Warnung stiegen einige Passagiere, die unbedingt zum Ijtema wollten, aus, bevor der Zug seine Fahrt fortsetzte.

    In einem dieser 44 Waggons befand sich Sajida Bano, die nach dem Tod ihres Mannes Bhopal verlassen hatte und zurückkehrte, um einige Familienangelegenheiten zu regeln. Am Bahnhof angekommen, erkannte sie schnell die Schwere der Lage. Sie ließ ihre beiden Kinder für ein paar Minuten allein, um einen Krankenwagen zu rufen. Als sie zurückkam, sah sie, dass ihr jüngeres Kind, Shouyer, noch immer ein Stofftier in seinen schwachen Händen hielt, während ihr älterer Sohn, Arshad, Blutklumpen um den Mund hatte. Er atmete nicht mehr. Innerhalb von drei Jahren hatte Union Carbide ihr sowohl ihren Mann als auch ihren Sohn genommen.

    children holding a cricket bat

    Kinder, die in der Nähe einer kontaminierten Mülldeponie und eines Sees am Stadtrand von Bhopal leben.

    Keiner der us-führungskräfte von Union Carbide wurde jemals vor Gericht  . gestellt, obwohl 2010 einige Führungskräfte der indischen Tochtergesellschaft wegen Fahrlässigkeit verurteilt wurden. 1989 führte eine Vereinbarung zwischen der US-Regierung und der indischen Regierung zu einer mageren Entschädigung: etwa 500 Dollar pro Betroffenem. Als darauf hingewiesen wurde, dass die Entschädigung in keinem Verhältnis zur Schwere der Katastrophe von Bhopal stehe, antwortete ein Sprecher von Dow Chemical, das Union Carbide inzwischen übernommen hatte: „500 Dollar sind für einen Inder mehr als genug.“

    In einem Bericht aus dem Jahr 2024 mit dem Titel „Bhopal: 40 Jahre Ungerechtigkeit“ behauptet Amnesty International, dass Dow Chemical in Zusammenarbeit mit den US-amerikanischen und indischen Behörden in der Region eine „Sacrifice zone“ geschaffen hat, in der über eine halbe Million Menschen über Generationen hinweg weiterhin leiden. „Sacrifice zones“ sind Gebiete, die für Unternehmensaktivitäten "geopfert" werden, die zu einer katastrophalen Verschmutzung und dauerhaften Gesundheitsschäden für die dort lebende, marginalisierte Bevölkerung führen. Weder Union Carbide noch Dow Chemical haben sich jemals verpflichtet, das Ausmaß der Kontamination zu untersuchen oder das Wasser und den Boden rund um die Fabrik, in der weiterhin Tausende von Menschen leben, ordnungsgemäß zu dekontaminieren. Kurz gesagt, Dow Chemical hat, genau wie Union Carbide, jegliche Verantwortung gegenüber den Opfern und der Umwelt abgelehnt.
    a man covering his eyes

    Mohammad Shafique, ein Überlebender, weint während er seine Geschichte erzählt.

    Mohammad shafique, ein Überlebender, berichtet von den Entbehrungen in den Jahren nach der Katastrophe. Neben sich auf dem Boden steht eine Plastikbox mit Medikamenten, daneben ein Glas und eine Tablette, die darauf warten, eingenommen zu werden. Seine Hände blättern durch eine alte Zeitung und zeigen auf Fotos aus dem Bericht über die Katastrophe von Bhopal.

    Dann überwältigt ihn die Erinnerung, und er presst die Hände fest gegen die Augen.

    black and white portrait of a young girl

    Ein Kind, das am Stadtrand von Bhopal lebt.

    Als ich mit chote khan, einem weiteren Überlebenden, spreche, versammelt sich die ganze Familie um uns herum. Der Raum ist voll, und weitere Menschen spähen durch die Tür.

    Khans Haus liegt, wie andere, die ich besucht habe, direkt hinter den Bahngleisen, die entlang der Fabrikmauer verlaufen, etwa hundert Meter von einem verseuchten See und einer Mülldeponie entfernt. Es ist ein Gebiet, das in Giftstoffe getaucht ist, die von den Verantwortlichen für die Katastrophe zurückgelassen wurden, ohne dass Anstrengungen unternommen wurden, die Verwüstung zu beseitigen. Trotz allem ist es hier einladend und lebendig. Sonnenlicht fällt durch die Türen und legt sich sanft auf die Teppiche. In diesem Haus fühlt man sich schnell zu Hause.

    Wenn man den Überlebenden von Bhopal in die Augen schaut, erkennt man die Last ihrer Geschichte und ihre unerschütterliche Entschlossenheit, Gerechtigkeit zu erlangen, aber auch ihre Menschlichkeit – ihr echtes Lächeln, ihren Wunsch zu erzählen, sich zu erheben, manchmal schüchtern, manchmal mit unnachgiebiger Beharrlichkeit.

    Irgendwann ruft Khan eine seiner Töchter herbei, die für alle Chai zubereitet. Er bittet sie, mir die letzten beiden Finger ihrer rechten Hand zu zeigen, die gekrümmt und geballt sind. Sie kann sie nicht bewegen. Das sei eine der Folgen der Kontamination, sagt er. Nach dem Interview lässt mich die Tochter, eine auffallend schöne Frau, ihre Hände fotografieren. Als sie diese für das Foto übereinanderlegt, beginnen sie zu zittern.

    Es ist eine menschliche Reaktion, die mich berührt. Was dahintersteckt, kann ich nicht ganz verstehen. Es ist, als würde sie still sagen: „Das ist mein Leben, mein Schmerz. Wer sind Sie und was werden Sie damit machen?“ Der Körper spricht eine Sprache, die tiefer geht als Worte. Die Hände lügen nicht.

    a young boy reaching out his hand

    Ein Kind mit Behinderungen, die wahrscheinlich auf elterliche Kontamination zurückzuführen sind, erhält kostenlose medizinische Versorgung in der Chingari Trust Clinic.

    Champa Devi Shukla ist Mitbegründerin der Chingari Trust Clinic in Bhopal, einem Rehabilitationszentrum für Kinder, in dem Fachleute aus verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten, um Kinder mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen oder Behinderungen zu unterstützen, die durch die Methylisocyanat-Kontamination des Bodens und des Wassers in der Stadt verursacht wurden.

    Ich spreche mit Shukla, während wir durch die Flure und Gärten der Klinik gehen und einige der Kinder treffen, die sie betreut. Sie spricht ruhig, eine liebenswürdige, zarte, weise Frau. Ihre Arbeit, erzählt sie mir, sei eine Form des Widerstands und des Kampfes. Es gibt schließlich viele Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Manchmal einfach durch Beharrlichkeit, wie alle Menschen, die ich hier getroffen habe. Sie leisten Widerstand, indem sie trotz Krankheit und Missbildungen weitermachen und sich mit nichts als ihrer eigenen Würde gegen Giganten stellen.

    Von CristianoDenanni Cristiano Denanni

    Cristiano Denanni ist freiberuflicher Reporter und Grundschullehrer in Italien.

    Mehr lesen
    0 Kommentare