My Account Sign Out
My Account
    View Cart

    Subtotal: $

    Checkout
    black and white photo of buildings in the mist

    Stadt der Knochen, Stadt der Gnaden

    von Joseph Bottum

    Donnerstag, 12. März 2020

    Verfügbare Sprachen: français, English

    0 Kommentare
    0 Kommentare
    0 Kommentare
      Abschicken

    Die Stadt stinkt. Diese Stadt, jene Stadt, jede Stadt überall: Sie riechen nach saurem Urin, altem Erbrochenem, verrottendem Essen, der langsam anschwellenden Flutwelle menschlicher Exkremente in den Abwasserkanälen.

    Möchten Sie ein Bild der Großstadt? Eine Darstellung der Sache an sich? Stellen Sie sich eine Nachtszene vor, wie ein Stadtbild in einem fotorealistischen Gemälde, in dem eine dünne, räudige Ratte aus einem Regenwasserkanal krabbelt, um an einer toten Taube in der Gosse zu nagen. Die verlassenen Lagerhäuser und die abgasgeschwärzten Mauern machen die Straße zu einer dunklen Schlucht, und Müll fegt über die schmutzigen Bürgersteige hinweg. Hoch oben wirbt eine Leuchtwand für Diamanten, wie sie eine elegante, fast orgasmische Frau in einem blauen Kleid trägt. Ein weiteres hell erleuchtetes Schild drängt Passanten – in einer ungeschickten, übererregten roten Schrift – dazu, einen Winkeladvokaten anzurufen und jemanden zu verklagen. Auf dem Schild ist sogar ein Bild des Anwalts. Er trägt eine gelbe Krawatte und grinst.

    Valentino Belloni, Vater und Tochter

    Valentino Belloni, Vater und Tochter
    Alle Fotos werden mit Genehmigung von Valentino Belloni verwendet

    London, Los Angeles, Lahore: Der Ort spielt keine Rolle. Alle städtischen Räume haben diesen tiefen, unauslöschlichen Gestank von so vielen Menschen so nah beieinander. Sie alle verfallen. Sie fördern das Geschäft mit der Lüge. Sie züchten Krankheiten. Schälen Sie die Jahrhunderte rissiger Gehwege weg. Die U-Bahnen, Kanäle und verrosteten Dampfleitungen. Der verschmutzte Boden, zermalmt unter dem unnatürlichen Gewicht der Stadt. Und selbst dann würden wir nicht das verzauberte Flüstern des Anfangs entdecken, die frische grüne Brust einer neuen Welt. Schälen Sie die Stadt weg bis in die Zeit ihrer Gründung. Schälen Sie die aufeinander gestapelten Leichen weg, die Generationen von Gewalt. Schälen Sie es weg auf den nackten Boden des Ursprungs, und alles, was wir finden würden, ist das erste Grab eines Gründungsmordes. Die Stadt ist auf dem Tod erbaut, bis ins Innerste. Eine Stadt der Knochen.

    Es gibt natürlich auch eine andere Stadt. Oder zumindest eine andere Art, es zu sehen: Die Stadt ist der Ort der Blumen, geschnittenen Nelken und Rosen in Eimern im Eckladen. Die Stadt ist der Ort der Parks und baumgesäumten Boulevards und Fahnen, die über gepflasterte Straßen wehen. Der Ort der Markisen und Eingangshallen aus Marmor. Und überhaupt, der Ort der Manieren: Keine Zivilisation existiert ohne die Civitas. Keine Urbanität ohne das Urbane. Nichts Politisches ohne die Polis.

    Möchten Sie ein Gegenbild einer Großstadtwelt? Stellen Sie sich vielleicht ein Frühstück mit Croissants und Café au Lait vor, „Frühmorgens / An einem schönen Sommertag“, um den Dichter Robert Hillyer zu zitieren:

    Sie wuschen die erhitzten Steine
    Mit hellem, reinem Wasserstrahl
    Und dem Duft des Sommerregens
    Der allen Staub hinwegbefahl
    Unter Bäumen, die sie säumen,
    Rue François Premier.

    Oder stellen Sie sich vor, Sie wären in einem Stadtbild. Bummeln, sagen wir, unter einem Regenschirm in Gustave Caillebottes Straße in Paris an einem regnerischen Tag. Oder etwas mit einem weicheren Fokus, wie Claude Monets Das Parlament von London, Sonnenuntergang. Oder etwas kontrastreicheres wie Marc Chagalls Paris durchs Fenster.

    Die Stadt beherbergt Museen, Symphonien, Ballett und Oper – alle zivilisierten Künste, die es nur dank der öffentlichen Freigiebigkeit gibt. Die Tugend der Großzügigkeit erweist sich für die Reichen als schwierig: Taten der Nächstenliebe sind nur dann großzügig, wenn sie ein Opfer erfordern, und die wirklich Reichen opfern auch dann wenig, wenn sie viel geben. Aber Aristoteles gibt uns einen anderen Namen für den guten Akt, große Geschenke zu machen. Er nennt es die Tugend der Freigiebigkeit: Spenden für das öffentliche Leben, die so groß sind, dass nur die Reichen sie übernehmen können. Und die Stadt ist der Ort, an dem die Freigiebigkeit aufblühen kann.

    Die großen Städte sind weder abscheuliche Jauchegruben noch verzauberte Gärten.

    Der Ort des Trubels und der Schönheit. Der Ort der Wohltätigkeit und der Zivilisation. Ein Land der Brunnen. Die Heimat weiter Teile des Lachens und der Freude in menschlicher Interaktion. Die Stadt ist die Frau, die sich an einem sonnigen Morgen am Wochenende gegen den Mann auf der Parkbank lehnt. Die Stadt ist der Weihnachtsmann der Heilsarmee, der seine Glocke läutet und lacht, während der weihnachtliche Schnee herabrieselt. Die Stadt sind die Menschen, die vorbeiströmen, lächeln und einen Dollarschein in seinen roten Sammelbehälter stecken. Die Stadt ist das Schulmädchen mit der dunkelblauen Mütze, das sich hinter einem Baum duckt, um sich vor ihrem Hund zu verstecken, dann herauskommt und auf ihn zu rennt, um den ängstlichen Dackel in ihre Arme zu nehmen. Eine Stadt der kleinen Gnaden.

    Natürlich hat noch nie jemand wirklich in einer dieser Städte gelebt, der Stadt der Knochen oder der Stadt der Gnaden. Das Einzige, was wir erleben, ist eine seltsame Mischung von beidem: Korruption und Anstand, Bosheit und Wohlwollen – Seite an Seite. Die großen Städte sind weder abscheuliche Jauchegruben noch verzauberte Gärten. Nicht ganz. Sie sind nur schöne Misserfolge und verdorbene Erfolge.

    Selbst die vom Feind belagerte Stadt hat ihre erlösenden Tugenden. Selbst das glitzerndste Utopia hat seine verborgenen Sünden.

    Die bösen Städte Sodom und Gomorrha scheinen die tiefe Wahrheit über Städte zu offenbaren – und dann plötzlich nicht mehr.

    Woher kommt die Stadt? Oft wird die Ökonomie herangezogen, um die Entstehung von Städten in der Antike zu erklären, und das mit gutem Grund: Die Stadt hat sich als der größte Wirtschaftsmotor erwiesen, den die Welt je gesehen hat. Aber als die Menschen zuerst das nomadische Leben aufgaben, war es nicht, weil sie die finanziellen Vorteile konzentrierter Kapitalreserven und die monetären Auswirkungen der Arbeitsteilung verstanden. Schon das Wort Ökonomie zeigt seinen späten Ursprung: Abgeleitet von Oikonomia, dem altgriechischen Wort für Haushaltsführung, wurde Ökonomie zu einem Begriff für den königlichen Haushalt, die Verwaltung des Königshauses, und gewann dann im späten Mittelalter die Bedeutung der Finanzverwaltung des Staates.

    In La Cité Antique (1864) macht der Historiker Fustel de Coulanges deutlich, dass die Geburt der Stadt buchstäblich aus dem Grab stammt. Coulanges argumentiert, dass nomadische Völker dazu neigten, ihre Toten an bestimmten Stellen zu begraben. Und das führte allmählich zu Tempeln in der Nähe der Gräber, dann zu Marktplätzen in der Nähe der Tempel, dann zu Häusern in der Nähe der Marktplätze.

    Dann gibt es natürlich noch die politische Theorie, dass Zivilisation die Zuflucht vor Thomas Hobbes’ bösem brutalen Naturzustand sei. In der Anthropologie weist René Girard darauf hin, dass in der Mythologie fast immer der Tod zur Geburt der Zivilisation führt. Vielleicht wurde die Stadt aus der Angst vor unserem eigenen Tod geboren. Oder vielleicht wurde die Stadt aus der Trauer über den Tod anderer geboren. So oder so, die Stadt beginnt mit dem Tod.

    In der Bibel wird die erste Stadt von Kain, dem ersten Mörder, gegründet. Von da an geht von der Schrift ein ständiges Misstrauen gegenüber Städten aus – ein ständiges Gefühl, dass Städte von den Versuchungen, die sie bereithalten, und den Gelegenheiten, die sie für die Sünde bieten, definiert werden. Propheten kommen aus der Wüste und von den Weiden, Korruption kommt aus der Stadt. Sogar im Heiligen Land ruht die Bundeslade im Lager Silo und nicht in den eroberten Städten. Die bösen Städte Sodom und Gomorrha scheinen die tiefe Wahrheit über Städte zu offenbaren – und dann plötzlich nicht mehr. Die Psalmen und dann die Propheten nach David bieten eine andere Sicht auf die Stadt. Ihr Name ist Jerusalem.

    So versteht Augustinus die Geschichte der Stadt in Die Gottesbürgerschaft. „Kain (was „Besitz“ bedeutet), der Gründer der irdischen Stadt, und sein Sohn Henoch (was „Hingabe“ bedeutet), in dessen Namen sie gegründet wurde, weisen darauf hin, dass diese Stadt von ihrer Entstehung bis zum Ende irdisch ist – eine Stadt, in der nichts mehr erhofft wird, als was man in dieser Welt sehen kann.“ Augustinus weist darauf hin, wie Genesis die Berufe der Linie Kains angibt: Sechs Generationen später lebt Jabal, „der Vater derer, die in Zelten wohnen, und derer, die Vieh haben“; Jubal, „der Vater aller, die mit Harfe und Orgel umgehen“; Tubal-Kain, „ein Lehrer jedes Kunsthandwerkers in Erz und Eisen“; und Naama, dessen Name Schönheit oder Vergnügen bedeutet.

    Diese Brüder werden als die Gründer der Fähigkeiten beschrieben, die für das Stadtleben notwendig sind, und ihre Schwester hilft, die Versuchungen der Stadt zu schaffen – einschließlich (nach rabbinischen Interpretationen) ihrer schönen Lieder für die Anbetung von Götzen. Was folgt, ist ein kurzes Gedicht, das „Lied des Schwertes“, das ihr Vater Lamech singt:

    Höret meine Rede, ihr Frauen Lamechs,
    merkt auf, was ich sage:
    Einen Mann erschlug ich für meine Wunde
    und einen Jüngling für meine Beule.
    Kain soll siebenmal gerächt werden
    aber Lamech siebenundsiebzigmal.
    (1 Mose 4,23–24)

    Der Ursprung der Gewalt wurde signalisiert, als Kain die erste Stadt gründete, und die anhaltende Gewalt wurde in Lamechs „Lied des Schwertes“ erklärt. Die Stadt der Knochen ist auf Mord gebaut, bis ins Innerste.

    Aber dann bringt David die Bundeslade nach Jerusalem, und die Bibel beginnt, eine Geschichte zu erzählen, die im Kontrast zur bisherigen steht. Vor David stellte die Bibel die sündhafte Gewalt der Stadt dem Frieden von Eden gegenüber, der idyllischen Welt der Unschuld im Garten. Nach David neigt die Bibel dazu, die Gewalt und Korruption der eigentlichen Stadt – wie Babylon und Ninive – dem Frieden der idealen Stadt gegenüberzustellen.

    Valentino Belloni, Zermalmt

    Valentino Belloni, Zermalmt

    Von Jesaja stammt die berühmte Verheißung, dass, wenn Gott unter den Nationen richtet, die Menschen auf Erden „ihre Schwerter zu Pflugscharen machen [werden] und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Jes 2,2–4) Aber diese Prophezeiung kommt sofort nach der Zusicherung, dass „aus Zion das Gesetz ausgehen wird und das Wort des Herrn aus Jerusalem“ – ein Friede, der nur aus einer heiligen Stadt, nicht aus einer Stadt des Todes stammen kann. Und selbst dann wird es nur „in den letzten Tagen“ versprochen – ein apokalyptisches Ideal der Stadt, nicht einmal in der gegenwärtigen Stadt Jerusalem realisiert.

    Augustinus argumentiert, dass dies eine Vision der Stadt Gottes ist, die der Stadt des Menschen gegenübersteht. Wir müssen in der einen Stadt leben: der Polismit ihren zivilen Strukturen, die darum kämpft, die ständige Bedrohung durch eskalierende Gewalt einzudämmen. Aber wir sind berufen in die andere Stadt: die Idee des Neuen Jerusalems, die sich von den Prophezeiungen Hesekiels bis zur Offenbarung des Johannes entwickelt.

    Die Bibel beginnt mit einem Garten und endet mit einer Stadt, wie Jacques Ellul und andere nach ihm bemerkt haben. In Sans feu ni lieu: Signification biblique de la Grande Ville (1951) argumentiert Ellul, dass Gottes Plan sich durch heilige Geschichte entlang dieser Bahn entwickelt. Ellul selbst misstraute den tatsächlichen Städten und betrachtete das urbane Leben als Einschränkung der menschlichen Freiheit und Autonomie. Aber er erkennt das apokalyptische Bild aus der Offenbarung als eine wichtige Abkehr von anderen alten Religionen: Die Bibel verspricht keine Rückkehr zu idyllischen Anfängen. Anstelle der ersten Unschuld des Gartens Eden haben wir die zweite Unschuld des Neuen Jerusalems, wo „nichts Verfluchtes mehr sein“ wird. (Offb 22,34) Diese „große Stadt, das heilige Jerusalem, die von Gott aus dem Himmel herabkam“ verheißt ein Ende der Emotionen des Todes – sowohl die Angst vor unserem eigenen Tod als auch die Trauer um den Tod anderer: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb 21,4)

    Wie sollen wir angesichts dieses Ideals die menschlichen Städte verstehen?

    Oh, wir haben uns die Stadt vorgestellt, die zu Recht zerstört wurde, wie Sodom und Gomorrha. Nathanael Wests Roman von 1939 über ein abscheuliches Los Angeles, Der Tag der Heuschrecke, endet mit dem Bild der Stadt in Flammen: Die trockenen Santa-Ana-Winde ziehen die gesamte Feuchtigkeit aus den Holzbungalows, bis sie nur noch Zunder für das große reinigende Feuer sind. Wir haben uns sogar vorgestellt, dass die Stadt ihre Zerstörung verdient, die aber nie ganz kommt, als hätte Gott sogar seinen Zorn gegen uns aufgegeben. Zum Beispiel die für einen Optiker werbende Plakatwand, die sich über dem Tal der Asche in Der große Gatsby erhebt: „Über dem grauen Land und den Schwaden dunklen Staubes, der endlos darüber driftet, nimmt man nach einem Moment die Augen von Doktor T. J. Eckleburg wahr.“

    Aber in der Vision einer Stadt, die nicht auf Mord basiert, können wir einen Weg zur Erlösung für die tatsächlichen Städte, in denen wir wohnen, finden. Es ist gerade unser Ruf zur noch nicht gekommenen Stadt Gottes, der es uns ermöglicht, für die Verbesserung der Stadt der Menschen zu arbeiten. Als William Blake die „finsteren satanischen Mühlen“ des industriellen Englands erblickt, stellt er sich vor, wie die Apokalypse der geplagten Erde ihre Natürlichkeit und Heiligkeit zurückgibt und nimmt sich vor: „Ich werd den geist’gen Kampf nicht lassen, / Mein Schwert in meiner Hand nicht ruhen / Bis wir Jerusalem geschaffen / In Englands grünen schönen Auen.“

    Valentino Belloni, Privates Konzert

    Valentino Belloni, Privates Konzert

    Doch selbst der Wunsch, die irdische Stadt zu vervollkommnen, kann zu einer Nachahmung der Sünde Kains führen. Ein extremes Beispiel ist der Taiping-Aufstand – der blutigste Konflikt außerhalb der Weltkriege –, in dessen Zuge 1853 Nanking eingenommen und in „Neues Jerusalem“ umbenannt wurde.

    In New York stampfen die Herden gelber Taxis die Fifth Avenue hinunter zum Washington Square, weiter durch die Schluchten von Greenwich Village und weiter zu den Canyons der Wall Street. Auf der anderen Seite des Ozeans wandern ähnliche Herden durch London. Krakau mag von Salvador da Bahia aus gesehen auf der anderen Seite der Welt liegen, aber sowohl in der polnischen Königsstadt als auch in der brasilianischen Kolonialstadt können Sie zwischen alten hohen katholischen Gebäuden spazieren gehen – was beweist, dass alles, was wir brauchen, um viele Viertel mit überlebender Barockarchitektur zu haben, eine Stadt ist, die im richtigen Moment reich und in späteren Jahrhunderten zu arm war, um sie abzureißen und etwas Neues zu bauen. Trotz all ihrer Unterschiede spiegeln Städte die Eigenschaften und Merkmale anderer Städte wider.

    Zum Beispiel Ankara, Brasília, Versailles und Las Vegas. Jede so unterschiedlich wie man sich nur denken kann, aber sie teilen etwas Seltsames: eine beunruhigende Gleichförmigkeit in den Epochen ihrer Architektur, ein Resultat dessen, dass die gesamte Stadt auf einmal aufgebaut wurde. Ezra Pound beschwerte sich einst, dass Rom die einzige Stadt ist, die wie ein Museum verwaltet wird. Aber so kommt einem jede mediterrane Stadt hin und wieder vor. Jede Stadt an einer Küste wendet entweder den Rücken oder das Gesicht zum Meer, wie Albert Camus einmal bemerkte. Charleston und Miami sind amerikanische Städte mit ihren strahlenden Gesichtern zum Wasser hin. Tacoma und New York sind Städte, die sich landeinwärts gewandt haben und deren dunkle Lagerhäuser in der Nähe des Ozeans sind.

    Doch selbst der Wunsch, die irdische Stadt zu vervollkommnen, kann zu einer Nachahmung der Sünde Kains führen.

    Ich erinnere mich, wie ich einmal, spät in der Nacht, in einem Speiselokal im Süden San Franciscos saß und Ron Hansens 1996 erschienenen Roman Atticus las. Der Nebel waberte in Wellen an den Fenstern vorbei. Alle paar Minuten drang das Donnern eines Flugzeugs von einem nahe gelegenen Flughafen herüber. Der Kaffee war das hellbraune Abwaschwasser, wie es aus den typischen amerikanischen Durchlauf-Kaffeemaschinen kommt. Und der Roman – ah, ja, der Roman. In seiner an der Erzählung vom verlorenen Sohn angelehnten Geschichte eines modernen Ranchers und seines vermissten Sohnes konstruiert Hansen ein tiefgründiges Symbol aus Nebensonnen, jenem seltsamen atmosphärischen Phänomen, in dem eine kleine zweite Sonne um 22 Grad links oder rechts von der eigentlichen Sonne zu schweben scheint. In Atticus schien die Nebensonne das Verhältnis von Vätern und Söhnen, die Fremdheit der physischen Welt und vielleicht sogar die Eucharistie zu symbolisieren.

    Könnte es ein so tiefgründiges Symbol für die Stadt geben?

    Tief in ihrem inneren Wesen ist die Stadt abscheulich. Auf der Höhe ihres Ideals ist sie edel. Was wir erleben, ist eine Mischung, die in der Mitte liegt: ein bisschen verflucht, ein bisschen gesegnet. Ein Anlass zur Sünde und eine Gelegenheit zur Nächstenliebe. Ein hässlicher Fleck und das Aufblitzen von Schönheit.

    Eine menschliche Sache. Mit anderen Worten – beladen mit der Schuld Kains, aber gerichtet auf das neue Jerusalem.

    Von JosephBottum Joseph Bottum

    Joseph Bottum ist Direktor des Classics Institute an der Dakota State University.

    Mehr lesen
    0 Kommentare