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    The green-walled Limón Academy was founded by Tita Evertsz in La Limonada, Guatemala City.

    Im Tal der Zitronen

    von Jose Corpas

    Dienstag, 25. Oktober 2022

    Verfügbare Sprachen: español, français, English

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    Als Tita Evertsz 1994 zum ersten Mal La Limonada betrat, bewegte sie sich in einen der gefährlichsten Slums in Guatemala-Stadt hinein. Zu jener Zeit hatte diese Stadt eine der höchsten Mordraten in ganz Südamerika. In dieser Gegend ließ sich die Polizei selten blicken, obwohl hier über 60.000 Menschen leben und der oberste Gerichtshof des Landes nur einen Steinwurf entfernt ist. An diesem ersten Tag wusste Tita noch nicht, wo sie da hineingeraten war. Doch 25 Jahre später ist sie immer noch dort.

    Als meine Großmutter jung war, war La Limonada größtenteils unbewohnt – eine bewaldete Schlucht, etwa eine Meile lang und eine halbe Meile breit, nur unterbrochen von einem mäandernden Fluss. Wenn sie uns während meiner Kindheit in Guatemala besuchte, erzählte sie mir Geschichten davon – Geschichten von einem Tal, in dem lauter Zitronenbäume standen. Dort gab es so viele Zitronen, sagte sie, dass man am frühen Morgen oder späten Abend, wenn die Sonne tieforange leuchtete und der Tau zu sehen war, auf dem feuchten, laubbedeckten Boden stehen, seinen Mund öffnen und Tropfen von Zitronenlimonade auf der Zunge spüren konnte.

    Als ich gegenüber Tita, einer zarten Frau, deren Gesicht völlig von ihrem Lächeln dominiert wird, diese Beschreibung wiederholte, lachte sie. Die Zitronenhaine sind längst Vergangenheit. Doch heute, sagte sie, werde der Name dieser Gegend immer noch gerecht, da die Menschen, die hier lebten, „so robust wie Zitronen“ seien. Dabei grinste sie und ballte die Faust.

    Das einst so üppige Laub wird nun bedeckt von Beton-Baracken, deren Blechdächer von noch mehr Beton oder Altmetall an Ort und Stelle gehalten werden. Der Fluss verläuft immer noch dort, doch heute ist er schokoladenbraun, voller Unrat und Abwasser, die aus anderen Teilen der Stadt hierher geleitet werden.

    Die Limón Academy mit dem grünen Anstrich wurde von Tita Evertsz in La Limonada, einem Teil von Guatemala-Stadt, gegründet.

    Die Limón Academy mit dem grünen Anstrich wurde von Tita Evertsz in La Limonada, einem Teil von Guatemala-Stadt, gegründet.
    Fotos mit freundlicher Genehmigung von Vidas Plenas

    Für die erste Welle von Landbesetzern, die sich hier ansiedelten, war dies ein Zufluchtsort – eine Alternative zu einem frühzeitigen Tod. Sie waren vor der Verfolgung geflohen, die einsetzte, als 1954 Guatemalas Präsident Jacobo Árbenz, ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt mit sozialistischen Neigungen, mithilfe der CIA gestürzt wurde. Im Zuge der staatlich finanzierten Schreckensherrschaft starben oder verschwanden im Laufe von drei Jahrzehnten mindestens 200.000 Menschen. Diejenigen, die nach La Limonada flohen, bauten Hütten und nutzten Regenwasser zum Trinken, Waschen und Kochen. Obwohl die Zahl der Siedler schon bald mehrere Tausend betrug, wurden sie als obdachlos angesehen und tauchten in den Einwohnererhebungen der Regierung nicht auf. Seit dieser Zeit haben Generationen von Bewohnern ihr Leben damit verbracht, niedere Dienste zu verrichten, Gelegenheitsjobs wahrzunehmen und zu betteln. An diesem Ort brechen Familien schnell auseinander. An ihre Stelle treten die Gangs.

    Wenn man am Rand der Schlucht von La Limonada steht, fühlt es sich an, als würde man in einen Krater voll zerbrochener Träume hinuntersehen – den „Friedhof der Lebenden“, wie der Journalist José Alejandro Adamuz Hortelano es einst beschrieb. Doch Tita Evertsz sieht das nicht so. „Ich sitze am Rand von La Limonada und alles, was ich rieche, ist Hoffnung.“

    Bevor Tita 1994 La Limonada zum ersten Mal betrat, hatte sie ehrenamtlich in einem nahegelegenen städtischen Krankenhaus ausgeholfen. Plötzlich hatte man hastig eine Mutter und ihre zehnjährige Tochter in die Notaufnahme geschoben. Der größte Teil ihrer Haut wies schwere Verbrennungen auf – und das Streichholz, das das Feuer verursacht hatte, war vom Ehemann der Frau entzündet worden. Tita verbrachte viele Tage am Bett des Mädchens. Dort hatte sie eine Eingebung: „Ich beschloss: Anstatt an der Mündung des Flusses Körper aus dem Wasser zu fischen, ist es besser, den Strom hinaufzulaufen und zu sehen, wer oder was sie dort hineinwirft.“

    Ohne zu wissen, was sie erwarten würde, ging Tita in die La-Limonada-Schlucht. Häuser ohne Fenster begrenzten die unglaublich schmalen Gassen. Wäscheleinen voller nasser T-Shirts hingen nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf.

    Tita erzählte mir, dass dies eine dunkle Zeit ihres Lebens gewesen sei, aber auch eine Zeit, in der sie Klarheit über ihre Berufung erlangte. Sie war vierfache Mutter und nur wenige Tage nach ihrem ersten Besuch kehrte sie zurück, mit einem Buggy, in dem sie ihre vierjährige Tochter und einen Topf voller Bohnen und Reis verstaut hatte. Sie verteilte das Essen an hungrige Kinder und alleinerziehende Mütter. Als sie sich unter den Gangmitgliedern, Dealern und Süchtigen bewegte, sah Tita ein Stück von sich selbst in ihren Gesichtern: Jahrelang hatte sie in einer Beziehung mit einem gewalttätigen Partner gelebt, und sie wusste, wie verführerisch Drogen sein konnten. Sie betete: „Herr, hilf mir, dies zu verhindern, anstatt Heilung bringen zu müssen.“

    Tita Evertsz

    Tita Evertsz

    Bald beschloss sie, sich auf die Kinder der Gegend zu konzentrieren. Innerhalb eines Jahres gründete sie die Organisation Vidas Plenas (Erfüllte Leben), deren Mission es laut Website ist, „auf die körperlichen, bildungsbezogenen, sozialen, emotionalen und geistlichen Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen und Familien von La Limonada und anderer unterprivilegierter Bezirke einzugehen“. Zunächst traf sie auf den Widerstand mancher Bewohner, insbesondere der Drogendealer, die ihre Bemühungen als Bedrohung für ihren eigenen Einfluss sahen. Dann dauerte es etliche Jahre, bis sie einen geeigneten Ort für ihre geplante Schule gefunden hatte. Doch sie blieb hartnäckig und im Jahr 2000 strömten die ersten Schüler in das Gebäude.

    Die Schule wird heute Limón Academy (Zitronen-Akademie) genannt, benannt nach der Frucht, die dem Tal seinen Namen gab. Seit ihrer Gründung sind drei weitere Schulen hinzugekommen (eine vierte befindet sich derzeit im Bau), benannt nach Mandarinen, Orangen und Grapefruit. Etwa 400 Schüler besuchen diese Schulen und werden von 40 Lehrern unterrichtet. Es gibt keine Schulgebühren, aber auch keine staatliche Unterstützung; ihr Ziel ist es, die staatliche Bildung zu ergänzen und als Gemeinschaftszentren zu dienen. Die einzige Bedingung, die Eltern erfüllen müssen, ist die verpflichtende Teilnahme an einem monatlichen Erziehungsunterricht, wo sie Beratung erhalten und von den Fortschritten ihres Kindes in Kenntnis gesetzt werden. „Wenn man sich nur auf die Kinder konzentriert, ist das, als würde man versuchen, ein Flugzeug mit nur einem Flügel zu fliegen“, sagt Tita. „Wir mussten dafür sorgen, dass auch die Eltern – der zweite Flügel – mit ins Boot geholt wurden.“

    In der Akademie beginnt ein typischer Tag damit, dass die Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren ihre Hände waschen, eine Vitaminpille einnehmen, eine ausgewogene Mahlzeit essen und ihre Zähne putzen. Nach einer kurzen Andacht machen sie ihre Hausaufgaben, besuchen einen Kunstkurs oder machen Sport.

    Ich sitze am Rand von La Limonada und alles, was ich rieche, ist Hoffnung.

    Natürlich kann die Akademie nicht jeden retten. Es kommt immer wieder vor, dass Schüler das Programm verlassen, was entweder den Umständen oder den Versuchungen geschuldet ist, und selbst diejenigen, die bleiben, müssen gegen den Sog der Kriminalität ankämpfen. Amelia beispielsweise kommt aus einer Familie von Dieben, die auch ihr dieses „Handwerk“ beigebracht haben. Die Familie finanziert sich immer noch durch Diebstahl – aber Amelia sagt, dass sie dank Tita „jetzt weniger stiehlt“.

    Die Geschichten anderer Schüler erzählen von großen Erfolgen. Etliche Absolventen haben ihre Ausbildung fortgesetzt und danach, mithilfe der Stipendien, die Tita angeboten hat, einen Collegeabschluss erworben. Abby, eine ehemalige Schülerin, ist heute Lehrerin an einer der Akademien.

    Wenn man am Rand der Schlucht steht und weiß, wohin man schauen muss, kann man die bunt leuchtenden Akademien von Limón, Mandarina, Naranja und Toronja im Tal unten sehen. Man kann die Rosen sehen, die in den Blumentöpfen auf den Fensterbänken blühen, und frischgewaschene Teddybären, die an Leinen hängen, um in der warmen Luft zu trocknen. Die Luft schmeckt nicht nach Limonade, aber sie ist erfüllt von Hoffnung.


    Weitere Informationen erhalten Sie auf: lemonadeinternational.org oder vidasplenas.org.

    Von JoseCorpas Jose Corpas

    Jose Corpas hat zwei Bücher über die Geschichte des Boxens geschrieben. Seine Berichte erschienen bereits beim amerikanischen Sender ESPN, auf der Plattform „Narratively“ und dem Magazin „Acentos Review“.

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