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    grass-grown stone stairs with stone walls on either side

    Thomas, der Zwillingsbruder

    von Giovanni Papini

    Montag, 18. März 2024
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    Bei diesem Abendessen war Thomas, genannt der Zwillingsbruder, nicht dabei; aber am nächsten Tag beeilten sich seine Freunde, ihn zu suchen, noch ganz erregt von der Erscheinung Jesu.

    „Wir haben den Herrn gesehen“, sagten sie zu ihm, „gewiss ist er es gewesen; er hat zu uns gesprochen, mit uns gegessen wie ein Lebendiger!“

    Thomas gehörte zu jenen, die durch die Schmach von Gol­gatha im Innersten um­ge­worfen waren.

    Thomas gehörte zu jenen, die durch die Schmach von Golgatha im Innersten umgeworfen waren. Einst hatte er sich angeboten, zusammen mit dem Meister zu sterben; aber als die Laternen der Schergen zum Ölberg heraufkamen, war er mit den andern davongelaufen. In der  Finsternis, die über der Schädelstätte lagerte, hatte sein Glaube alles Licht verloren. Trotz aller Ankündigungen hatte er sich das Ende seines Meisters nie so vorgestellt. Die Wirbelhöhe der Schmach, zu der sich Jesus, wiederstandlos wie ein schwaches Lämmlein, hatte hinauftreiben lassen, verursachte ihm jetzt, beim Darandenken, fast noch größeres Leiden als der Verlust des Geliebten selber. Alle seine Hoffnungen getäuscht zu sehen, empfand er wie eine Beleidigung, wie das Offenbarwerden eines Betruges; die Beleidigung rechtfertigte in seinen Augen fast das schmachvolle Davonlaufen. Thomas war wie Kleophas und sein Begleiter ein Sinnenmensch.  Auf den machtvollen Ruf Christi hin hatte ihn ein unwillkürlicher Flügelschlag zu hoch gehoben, in eine Welt, in der er nicht daheim war. Der Glaube war wie eine Ansteckung über ihn gekommen; das Licht Christi hatte ihn dann Tag für Tag neu entzündet. Jetzt war dies Licht unter der Erde, schien wenigsten unter der Erde zu sein. In dieser Stunde der Schmach, wo der Hass Herr geworden war, erlosch das Licht in der Seele des Thomas, sie wurde wieder kalt, fiel zurück in ihre eigene Natur, in ihre wahre Natur: da suchte sich der Sinn wieder zum Sinnlichen; die Veränderungen, die er erwartete, mussten jetzt wieder Veränderungen am Stoff sein, handgreifliche Veränderungen; Sicherheit und Trost hoffte er jetzt wieder nur im Stoff.

    Seine Augen weigerten sich, etwas anzusehen, was seine Hände nicht betasten würden.

    Seine Augen weigerten sich, etwas anzusehen, was seine Hände nicht betasten würden. Damit waren seine Augen verurteilt, das Unsichtbare nie zu sehen; denn diese Gnade begegnet nur dem, der an ihre Möglichkeit glaubt. Er hoffte wohl aufs Reich, zumal solange Wort und Gegenwart Christi sein erdhaftes Herz in einen Himmel hoben; aber auch da hoffte er auf ein Reich, das nicht aus lauter reinen Geistern bestünde und irgendwo am Sternenhimmel hinflöge zusammen mit vergänglichen Wolkeninseln; er hoffte auf ein Reich lebendiger Menschen, mit warmem Blut in der Adern, die essen und trinken würden an handgreiflich wirklichen Tischen; die als Herren über eine schönere, von Gott ihnen zugesprochene Erde walten würden nach neuen Gesetzen. Nach dem Ärgernis des Kreuzes war Thomas nichts weniger als aufgelegt, bloß aufs Hörensagen hin an die Auferstehung Christi zu glauben. Allzu grausam sah er sein erstes Vertrauen belogen, als dass er sich jetzt auf die mit ihm Betrogenen verlassen hätte. Da sie ihm wie Festboten die Neuigkeit hinterbrachten, erwiderte er:

    Wenn ich nicht die Nagelmale in seinen Händen sehe, wenn ich nicht meine Finder in die Nagelwunden und meine Hand in das Loch auf seiner Brust lege, dann glaube ich nicht.

    Er hatte zunächst gesagt: wenn ich nicht sehe, aber das nahm er sofort zurück; auch die Augen können Verrat üben, viele sind schon geäfft worden von Gesichten. Uns so geht sein Gedanke auf körperliche Erfahrung, auf die handhafte, wenn auch grässliche Betastung: den Finger dorthin stecken, wo die Nägel sind hineingeschlagen worden; die Hand, die ganze Hand da hineinlegen, wo sich die Lanze hineingebohrt hat; wie ein Blinder tun, der in manchen Fällen sicherer geht als die mit Augen Sehenden.

    Er sagt dem Glauben ab, dem höheren Gesicht der Seele; er sagt sogar dem Gesicht überhaupt ab, dem edelsten Sinn des Leibes. Er setzt sein Vertrauen nur noch in die Hände, ins Fleisch, das sich an Fleisch reibt. Die doppelte Absage bannt ihn ins Dunkle. Er muss blind herumtappen, bis das Mensch gewordenen Licht, sich in Liebe zum Äußersten herablassend, ihm Licht der Augen und Licht des Herzens nochmal schenkt.

    Mag, wem’s Ver­gnügen macht, im Finstern sehen, im Schweigen hören, in der Einsamkeit sprechen, im Tode leben: in ihre ring­sum zugenagelten Köpfchen geht so etwas nicht hinein.

    Jene Antwort indessen hat Thomas zu einem berühmten Mann gemacht. Das sieht man ja immer wieder bei Christus: er verleiht auch denjenigen Dauer, die sich an ihm vergehen. Alle, die Schritte des Geistes nur vorsichtig machen, wie mit einem kranken Fuß; die beim Denken sind wie das Weib auf dem Markt: drei Stück womöglich für einen Heller! Die Knicker auf den Kathedern, in den Akademien; den glutlosen, mit Vorurteilen gestopften Flachköpfe, die immer nur Vergleichsfälle suchen, Irrtumsmöglichkeiten vermuten, überhaupt nur das Gemeine für möglich gelten lassen; die von der Wissenschaft nur den Nutzen haben wollen, den Abfall des Gelehrten; und auch die, die sind wie Nachtlichtchen, die auf die Sonne eifersüchtig sind; wie junge Gänse, die’s nicht leiden können, dass die Falken fliegen: alle diese haben sich Thomas, den Zwillingsbruder, zum Patron und Vorgeher gewählt. Sie wissen von ihm weiter nichts als das: er glaubte nur, was er betasten konnte. Dieses Wort ist für sie der Himalaja menschlicher Urteilskraft. Mag, wem’s Vergnügen macht, im Finstern sehen, im Schweigen hören, in der Einsamkeit sprechen, im Tode leben: in ihre ringsum zugenagelten Köpfchen geht so etwas nicht hinein. Die sogenannte Wirklichkeit ist ihr Bereich; von der lassen sie nicht los. So stellen sie ihre Sache aufs Geld, das doch keinen Hunger stillt; auf das Land, von dem sie doch nur eine winzige Grube behalten werden; auf den Ruhm, der nur ein kurzes Wispern ist im Schweigen der Ewigkeit; auf das Fleisch, das bald in wurmiges Ass sich verwandeln wird; auf die zauberähnlichen, Aufsehen erregenden Erfindungen, die den Menschen erst zu ihrem Sklaven machen und ihm dann die schreckhafteste Entdeckung bescheinigen: den Tod. Das sind die wirklichen Dinge, an denen sich die Thomasverehrer gütlich tun. Aber wenn es ihnen einmal einfiele, auch noch das, was nach jenem Sätzchen kommt, zu lesen, vielleicht würden sie versucht, sogar an dem zu zweifeln, der an der Auferstehung gezweifelt hat.

    Acht Tage später waren die Jünger wieder beisammen, und Thomas war bei ihnen. All die Tage hatte er gehofft, der Erlöser möchte sich auch ihm zeigen; manchmal hatte er wohl zitternd gedacht, seine erste Antwort könnte der Grund des Fernbleibens sein. Aber siehe, auf einmal kam eine Stimme von der Tür her:

    „Friede sei mit euch!“

    Jesus steht dort und sucht Thomas mit den Augen. Er ist des Thomas wegen gekommen, nur seinetwegen; denn die Liebe, die er zu ihm trägt, ist stärker als jede Beleidigung. Und er ruft ihn mit Namen, tritt näher zu ihm, damit der ihn deutlich sehe, von Angesicht zu Angesicht.

     „Tu deinen Finger her und schau meine Hände an! Hebe deine Hand und leg sie in meine Seite, und sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig!“

    Und Thomas tat alles und schrie: „Mein Herr und mein Gott!“

    Mit diesen Worten, die ein einfacher, alltäglicher Gruß hätten sein können, gab sich Thomas besiegt, und seine Niederlage war schöner als jeder Sieg hätte sein können. Von diesem Tage an gehörte er Christus ganz. Bis dahin hatte er ihn als einen Menschen verehrt, der besser war als alle andern; jetzt erkannte er ihn als Gott an, ja als seinen Gott.

    Da sagte Jesus noch, damit dem Thomas sein zweifeln wie eine Wunde immer im Gedächtnis bliebe:

    „Weil du gesehen hast, glaubst du; selig, die nicht sehen und doch glauben!“

    Da wird die letzte der Seligkeiten verkündet, die größte: selig, die glauben, ohne erst gesehen zu haben! Denn die einzigen Wahrheiten, die in Wirklichkeit gelten allen denen zum Trotz, die im Toten wühlen, sind Wahrheiten, die das fleischliche Auge nicht sieht, die Hände aus Fleisch nicht ertasten können. Diese Wahrheiten kommen von oben; wessen Seele nach allen Seiten geschlossen ist, der empfängt sie nicht; er wird sie erst aufnehmen müssen an dem Tag, an dem sein Leib mit seinen fünf misstrauisch sich öffnenden und schließenden Törchen wie ein verknittertes, verschlissenes Kleid auf der Bahre liegt, gewärtig, ins Grab gesteckt zu werden wie ein stinkender Mutterkuchen.

    …, dass der Unglaube unter Umständen soviel wie ein Mord sein kann. …aber zunächst Selbst­mord, Mord der eigenen Seele.

    Thomas ist ein Heiliger; aber an der letzten Seligpreisung hat er nicht mehr teilgewinnen können. Eine alte Legende erzählt, seine Hand sei bis zum Tode rot geblieben von Blut. Die Legende ist fürchterlich wahr als Sinnbild einer Wahrheit. Wir müssen daran denken, dass der Unglaube unter Umständen soviel wie ein Mord sein kann. Die Welt ist voll von solchen Mordtaten – aber jede von ihnen ist zunächst Selbstmord, Mord der eigenen Seele.

    Rubens, Detail of The Incredulity of St. Thomas, from the Rockox Altarpiece Rubens: Der ungläubige Thomas
    Von

    Giovanni Papini (9. Januar 1881- 8. Juli 1956) war ein italienischer Schriftsteller. In „Das Leben des Herrn“ (Storia di Cristo - 1921) erzählt er das Leben Jesu, nach dem Vorbild der Evangelien.

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