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    aerial view of apartment blocks in a city

    Das Senfkorn-Projekt

    Neue Formen von Gemeinschaft und Gemeinde in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung

    von Ute Paul, Michael Weinmann und Chris Zimmerman

    Mittwoch, 31. Mai 2023

    Verfügbare Sprachen: English

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    Seit 2015 erprobt die Senfkorn-Stadtteilmission in Gotha-West neue Formen von Gemeinschaft und Gemeinde. Ziel ist es, Glaube, Liebe und Hoffnung zu teilen mit Menschen, die in äußerer oder innerer Distanz zu traditionellen Formen von Kirche leben. Senfkorn wurde 2015 von dem evangelischen Pfarrer Michael Weinmann und seiner Frau Christiane gegründet. 2021 kamen Frank und Ute Paul hinzu. Chris Zimmerman hat für Plough mit Michael und Ute gesprochen.

    Plough: Ute, Ihr wart jahrelang als Missionare in Argentinien unterwegs. Jetzt seid ihr in Deutschland, eurem Heimatland. Was soll man sich da unter einem Missionsprogramm vorstellen? Es gibt doch hier schon Christen und Kirchen, oder?

    Ute Paul: In Argentinien waren wir interkulturelle Mitarbeiter, die indigenen Geschwister nannten uns fraternal workers. Nach unserem Verständnis ist jeder und jede von uns Christen am jeweiligen Lebensort Teil von Gottes Sehnsucht nach den Menschen, seiner Mission. Dazu muss niemand erst ins Ausland gehen und es braucht auch keine „Profis“. Tatsächlich gibt es in Argentinien, wo wir waren, viel mehr christliche Kirchen als hier. Und es ist auch viel selbstverständlicher, über Gott zu sprechen. Die indigenen Kirchen, die wir begleitet haben, sind ausgesprochen lebendig, sie gestalten aktiv ihre Siedlungen mit, sie stärken die Identität der indigenen Gläubigen. Hier in Gotha sehen wir mit Erstaunen, dass vielleicht ein Prozent der Menschen in die verschiedenen christlichen Gottesdienste gehen. In West-Gotha mit seinen zehntausend Einwohnern haben viele Menschen Kirche und Glauben ganz aus dem Blick verloren. Sie rechnen nicht damit, dass das für sie irgendwie Bedeutung haben könnte, Gott scheint so weit weg zu sein. Die Herausforderung ist also groß. Aber wir machen kein „Missionsprogramm“, sondern wir wollen achtsam gegenwärtig sein als Jesus-Menschen und darauf vertrauen, dass Er schon hier ist.

    Michael Weinmann: Ich sehe unsere Arbeit hier nicht als „Missionsprogramm“. Mission ist ein schwieriges und auch verbranntes Wort. Oft wird es so verstanden, als ob die einen über etwas verfügen, was sie den anderen bringen müssen, weil es denen fehlt. Dies war jedoch von Anfang an nicht unser Ansatz. Wir sind eine Initiative des Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreises Gotha, aber unser Ziel ist nicht, möglichst viele neue Mitglieder zu gewinnen. Wir sehen uns vielmehr als Teil der Mission Gottes, der sich in Jesus Christus selbst in diese widersprüchliche Welt hineingegeben, um sie zu lieben und zu versöhnen.

    Der Name eures Projekts ist Senfkorn. Was steht dahinter?

    Michael: Wir sehen uns nicht als „Projekt“ im Sinne eines von uns durchgeführten Programms. Wir leben mit den Menschen aus der Nachbarschaft als offene, „postkonfessionelle“ Gemeinschaft im Horizont des kommenden Reiches Gottes. Darauf bezieht sich unser Name. Jesus selbst hat diese Geschichte erzählt: Da ist eine winzig kleine Chance für neues Leben, leicht zu übersehen, marginal und bedeutungslos. Aber wenn es ausgestreut wird, und zwischen den Betonritzen Wurzeln fasst, wächst es und bietet all den bunten Vögeln unter dem Himmel Schutz.

    Ute: Es ist uns sehr wichtig, dass die Leute vor Ort erleben, dass ihre eigenen Ideen und Vorschläge gehört und mit ihnen gemeinsam umgesetzt werden. Wir suchen immer wieder nach Wegen der Selbstwirksamkeit und Identifizierung. Es ist ja ihr Stadtviertel!

    Wie soll man sich Gotha-West vorstellen?

    Ute: Das Stadtviertel besteht aus Wohnblocks, die in der DDR-Zeit in den 1980er Jahren gebaut wurden. Damals war man stolz auf den Wohnstandard mit Heizung, warmem Wasser und guter Infrastruktur. Nach der Wende hat sich Gotha-West zu einem spannungsreichen Stadtviertel entwickelt. Viele Alteingesessene zogen weg, und wer seitdem hierher gezogen ist, war meist auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum, etwa Niedriglohnangestellte, Sozialhilfeempfänger und alleinerziehende Mütter. Dazu kamen viele Migranten aus Osteuropa, aus dem Balkan, seit 2015 auch aus dem Vorderen Orient und afrikanischen Ländern und seit 2022 aus der Ukraine. Das Zusammenleben ist nicht leicht, denn viele Menschen leben isoliert und die Kommunikation zwischen den deutschen und den zugezogenen Einwohnern gelingt nur mäßig, was auch mit Sprachbarrieren zusammenhängt. Immer wieder entstehen Ängste, Vorurteile und Konflikte.

    ein älterer Mann sitzt mit einem jungen Besucher in einem Gemeindezentrum

    Frank Paul sitzt mit einem jungen Besucher zusammen im Ladenlokal des Senfkorn-Projekts. ©Senfkorn Stadtteilmission.

    Was macht ihr konkret?

    Michael: Wir machen Besuche, lassen uns auf der Straße ansprechen, haben Zeit für die Menschen und ihre Anliegen. Christiane bietet als Kunstlehrerin in einem Ladenlokal, das wir angemietet haben, Malprojekte für Kinder an. Wir treffen uns dort zu Gebet und Gottesdienst, um Filme zu sehen und Deutsch zu lernen. Es gibt einen Runden Tisch der Religionen… Ich selbst bin auch als Religionslehrer an der Stadtteilschule, regelmäßig erzähle ich Kindern aus einem Kindergarten Geschichten von Jesus.

    Ute: Uns geht es vor allem um Begegnungen. Deswegen sind wir hier immer zu Fuß unterwegs, wir besuchen Leute, achten auf zufällige Begegnungen und bleiben stehen, wenn uns jemand anspricht. Es ist uns immer bewusst, dass Gott uns jederzeit jemanden über den Weg schicken kann. Wir wollen Werkzeuge seiner Liebe hier sein. Danach halten wir Ausschau. Außerdem laden wir in unser Ladenlokal ein: Kinder zum Malen, Teens zum Quatschen, Jugendliche zum Diskutieren, Alleinstehende zum Kaffeetrinken, Frauen zum Deutschlernen. Es gibt auch Gebetszeiten am Mittag und eine Bibel-Entdeckergruppe. Zweimal im Monat feiern wir Laden-Gottesdienst mit Groß und Klein oder Kinderzeit, ein herrliches, quirliges Singen, Hören, Erzählen im Kreis. Kein Tag wie der andere und wir lassen uns durch Gottes Geist leiten. Er ist ja der erste, der seine geliebten Menschen lebendig machen will.

    Was sind das für Menschen, denen ihr da begegnet?

    Ute: Wir lernen die unterschiedlichsten Menschen kennen. Je näher wir ihnen kommen, desto mehr tritt die jeweilige Lebensgeschichte zu Tage – oft mit schweren Dramen und Abbrüchen, mit großer Sehnsucht. Wir entdecken Liebenswertes und Verstörendes. Manchmal kommt unsere Geduld an ihre Grenzen, vielleicht weil wir den falschen Wunsch haben, dass sich die Leute ändern sollen. Das begrenzt dann unsere Liebe und unsere Fähigkeit, sie anzunehmen. Aber es gibt auch den Wunsch, dass das Senfkorn in ihrem Leben aufkeimt und ihnen Gottes Heil in allen Lebensbereichen widerfahren möge. Dieser Wunsch macht uns frei und offen dafür, auf Gottes Wirken vertrauensvoll zu warten.

    Es tut mir immer wieder weh, wenn ich der Verzweiflung, Sucht, Wut, Ohnmacht oder Leid nahe komme, die alleinerziehende Mütter, einsame Alte, traumatisierte Jugendliche und überarbeitete Männer und Frauen erleben. Und vielleicht sind wir hier, damit wir vor diesem Schmerz nicht davonlaufen, sondern ihn hoffnungsvoll Gott hinhalten.

    Zugleich gibt es auch viel Schönes zu entdecken! Zum Beispiel das regelmäßige Frühstück in unserem Ladengeschäft mit Brötchen, Süßem, Käse und Eiern. Jeder bringt etwas mit. Wir halten eine der Glastüren offen, damit sich alle Passanten eingeladen fühlen Es wird gequatscht und gelacht, und die Frauen aus dem Stadtviertel versorgen alle mit Kaffee. Alles ganz menschlich, ganz einfach. Als wir uns nach dem ersten Frühstück zu einem Wochenrückblick und Dankgebet trafen, sagte die Frau, deren Vorschlag das Ganze gewesen war, strahlend: „Ich hatte mich schon die ganze Woche auf unser Frühstück gefreut. Gott sei Dank!“.

    Michael, ihr habt vorher in einem schönen Pfarrhaus gewohnt. Warum seid ihr in eine Plattenbausiedlung umgezogen, in einen sozialen Brennpunkt?

    Ein Freund hat mich damals gefragt, warum wir auf die Golanhöhen ziehen wollen – in ein Kriegsgebiet also. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht immer darüber predigen kann, wie Jesus ungeschützt nach draußen gegangen ist, wenn ich selbst immer schön in meiner Komfortzone bleibe. Natürlich ist es herausfordernd, mit komplexen Problemen konfrontiert zu werden, aber wir müssen uns sehr davor hüten, Menschen zu stigmatisieren, wenn wir Zuschreibungen wie „sozialer Brennpunkt“ usw. verwenden. Wir wollen hier übrigens auch keine Kirchengemeinde im klassischen Sinn aufbauen, obwohl wir im vollen Sinn Kirche sind.

    Luftaufnahme von Wohnblocks in einer Stadt

    Die Plattenbauten in Gotha-West

    Viele Menschen in Europa sehen Migration, gerade auch aus dem islamischen Kulturkreis, zunehmend kritisch. Wie geht ihr damit um?

    Michael: Wir haben sehr gute Kontakte zu Muslimen. Oft sind sie es, die am liebsten mit uns über den Glauben reden. Es gibt andererseits auch Leute hier für die „refugees not welcome“ gilt, das müssen wir aushalten. Dabei geht manchmal schon auch eine unserer Fensterscheiben zu Bruch…

    Ute: Wir möchten hier als Brückenbauer mitleben. Gerade weil wir Freundschaft zu allen pflegen, die uns ihre Tür öffnen. Dabei ist uns immer bewusst, dass wir so Vieles nicht wissen. Jeder Mensch will erst einmal mit großem Respekt kennengelernt werden. Schubladen gehen so schnell auf, auch bei uns. Ängste wollen gehört und ernst genommen – aber nicht verstärkt werden. Sie können sich abbauen, wenn reale Begegnung geschieht, immer wieder. Deshalb ärgert und beunruhigt uns auch sehr, wie diffuse Ängste der Leute vor z. B. „Überfremdung“ politisch polemisiert und instrumentalisiert werden. Zugleich verschließen wir nicht die Augen davor, dass die verschiedenen Gruppen im Stadtviertel sehr wenig miteinander in Kontakt sind oder sein wollen – oder können, weil sie sich nicht verstehen. Wir wollen sie zusammenbringen, indem wir etwa einen Deutschkurs für Frauen anbieten und uns mit jungen Erwachsenen mit Fluchthintergrund zum Gespräch treffen.

    Schon am ersten Tag hier in Gotha-West traf ich eine junge syrische Frau, die mich freundlich anlächelte und mir ihre Telefonnummer gab. Ein paar Tage später durfte ich einen herrlich duftenden arabischen Kaffee bei ihr trinken. Da war ihr Mann noch skeptisch, was diese deutsche Frau bei ihnen will. Mittlerweile ist daraus eine kostbare Freundschaft geworden, bei der ich Arabisch lerne und sehe, wie ernst es ihnen als Muslimen mit der Ehrfurcht vor Gott ist. Deshalb habe ich ihr jetzt zum Beginn des Ramadan Rosen gebracht, weil sie ihr Wohnzimmer immer besonders schmückt für diesen Anlass. Aufmerksam hört sie mir auch zu, wenn ich von den Geschichten von Jesus erzähle, die ich liebe.

    Wie ist das mit dem christlichen Glauben: Interessieren sich die Leute überhaupt dafür – besonders die jüngere Generation?

    Michael: Wir wollen den Leuten keine abstrakten Ideen überstülpen, sondern unser Leben mit ihnen teilen. Und natürlich müssen wir uns in einer säkularen, nicht-religiösen Welt immer wieder fragen: „Was ist das, was wir zu sagen haben?“ Und: „Wie sagen wir es?“

    Ute: Unsere Erfahrung ist, dass sich alle nach Gemeinschaft sehnen. Das ist die Tür! Egal welches Alter, egal in welcher Lebenssituation. Braucht es nicht ein überraschend anderes, frisches Dasein von Kirche und gelebtem Glauben im Alltag, das genau das berücksichtigt? Erlebte Beziehung und Vertrauen kann die hohen Mauern abbauen, die Menschen aus welchen Gründen auch immer Gott und Kirche gegenüber hochgezogen haben. Auch die Jungen beginnen tiefere Fragen zu stellen, wenn ihre Themen und ihre Sicht ernst genommen werden. Wir stellen uns der Herausforderung, eine verständliche Sprache zu suchen für die kostbare Botschaft, die uns anvertraut wurde, diese göttliche Quelle von Versöhnung, Verbundenheit und Freude.

    Wir erleben, wie viel Freude es bringt, wenn Menschen das selber erfahren. Da war eine ältere Dame, die lange ihre sehr betagte Mutter gepflegt hatte. Kurz nach dem Tod der Mutter, ging sie eines Tages in den Supermarkt, noch immer ganz im Schock. Dort traf sie einen der Teenager, der immer mal wieder in unseren Ladenlokal kommt. Einer, der es selber nicht so leicht hat. Als sie ihm von ihrer Trauer erzählte, umarmte der Jugendliche sie spontan und sagte ihr tröstliche Worte, die ihr viel bedeuteten. Und das wiederum führte dazu, dass der Teenager über die Wirkung seiner kleinen Geste selber erstaunt und glücklich war. Da wir bei unseren Treffen im Laden oft dazu einladen, von Ereignissen zu erzählen, für die wir Gott und Menschen dankbar sind, hörten wir alle von der kurzen Begegnung. Es war, als ob das Licht damit immer stärker würde.

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