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Rezension: Yellowface
Der Kreaturen Kummer
Sollten wir uns wieder neu am Gesetz der Natur orientieren?
von Peter Mommsen
Dienstag, 2. Juli 2024
Der Tag, an dem ich mein erstes Lamm schlachtete, war ein strahlender Sonntag im September. Mein Freund Achim war aus dem Nachbardorf angereist – unsere Familie lebte damals im ländlichen Thüringen – um mich anzuleiten. Achim, ein ehemaliger DDR-Polizeibeamter, hatte eine eigene Herde und jahrzehntelange Erfahrung sowie das erforderliche Bolzenschussgerät. Wir lebten damals von den mageren Einkünften unseres neu gegründeten Gartenbaubetriebes, und es gab nie genug Protein zu essen. Da sich in unserer Nähe ein paar ungenutzte Weiden befanden, lag es nahe Schafe und Ziegen anzuschaffen. Nach einer Reihe von Anfangsschwierigkeiten – einige der Tiere starben, als sie von einer wohlmeinenden Nachbarin mit übrig gebliebenem Geburtstagskuchen gefüttert worden waren – war es endlich an der Zeit, Fleisch zu erzeugen. Achim vertraute den alten Methoden und hatte seine traditionelle hölzerne Schlachtbank mitgebracht, die er neben der Garage über einem Regenabfluss aufstellte. Er half, das erste Opfer darauf zu legen. Mit seinen sieben Monaten hatte das Tier die Lieblichkeit des frühen Lammes zugunsten der stark riechenden Grobheit eines Fast-Schafs verloren. Aber als wir es auf die Bank hoben, bevor der Bolzenschussapparat den Prozess initiierte, der es in einen Rippen- und Schulterbraten verwandeln würde, sah ich in seine feuchten und schönen Augen.
An diesem Abend schlemmten wir gemeinsam Achims Spezialität – Lammbauchlappen, mit in Scheiben geschnittenen Nieren gefüllt, gewürzt mit Kümmel und in Bier geschmort – sowie seinen selbstgemachten Kirschwein. Es war ein guter Tag. Aber der Blick in die Augen des Tieres blieb mir im Gedächtnis, und mit ihm das Gefühl der Verbundenheit mit einem anderen Lebewesen, dessen Leben zu meinen Gunsten geopfert wurde. Ein Gefühl der Verbundenheit aber auch eine unüberbrückbare Distanz zwischen der Welt des Tieres und der meinen. Die Opfer, die der Mensch heute den traurigen Geschöpfen abverlangt, sind weitgehend aus den Augen und aus dem Sinn verschwunden, und damit auch unsere Verbindung zu ihnen. Unser Leben wird zunehmend digital und urban. Nur vier Prozent der Europäer und zwei Prozent der Amerikaner sind Vollzeitlandwirte.
Doch wo die Verbindung schwach wird, entgleitet auch die Bedeutung dessen, was uns vom Rest der Natur unterscheidet.
Seit der industriellen Revolution hat unsere Spezies im Rausch der technologischen Beherrschung eine nie dagewesene Dominanz über die Natur ausgeübt, mit Folgen, die uns nun einholen: Umweltverschmutzung, Abholzung, Verlust von Lebensräumen, Klimawandel, ein Massensterben wie seit der Kreidezeit nicht mehr. Hinzu kommen die Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft, wie z. B. die Erschöpfung der Böden, vergiftetes Grundwasser und „Kraftfutterbetriebe“, in denen Millionen von Tieren gehalten werden – ein System, das weit entfernt ist von Achims Art der Landwirtschaft. Sogar unsere Hunde scheinen vermehrt unter Angstzuständen zu leiden, wie eine 2019 im Journal of Veterinary Behavior veröffentlichte Studie zeigt, wahrscheinlich aufgrund ihrer beengten Lebensweise.
In den letzten Jahrzehnten entstand eine Umweltbewegung, die gegen diese zerstörerischen Gewohnheiten protestiert. Weniger klar als die Tatsache der Ausbeutung ist die Lösung. Einige plädieren dafür, Technologie und Finanzen zu nutzen, um Nachhaltigkeit zu fördern. Andere fordern, den technologischen Kapitalismus aufzugeben. Nicht wenige argumentieren, dass es einfach zu viele Menschen gibt – dass ein Bevölkerungsrückgang oder sogar das Aussterben der Menschheit für den Planeten gut wären.
Da der industrialisierte Westen die Hauptverantwortung für den ökologischen Kollaps trägt, weisen viele der historisch dominierenden Religion des Westens, dem Christentum, die Hauptschuld zu. Dies erklärt auch, warum das Heidentum eine der am schnellsten wachsenden Glaubensrichtungen ist, attraktiv für Millennials und die Generation Z. Laut einer US-Studie aus dem Jahr 2014 bezeichnen sich etwa eine Million Amerikaner als Heiden oder Hexen, 1990 waren es nur ein paar Tausend. Nach Ansicht seiner Kritiker macht sich das Christentum schuldig, indem es das Gebot der Genesis, „die Erde zu füllen und sie zu unterwerfen“, als Lizenz zur Ausbeutung benutzt. Sein angeblicher Dualismus, der die Seele gegenüber dem Fleisch privilegiert, hat zu einer Verachtung des Körpers und des biologischen Lebens im Allgemeinen geführt und behauptet eine menschliche Ausnahmestellung, wo es die Einheit des Lebens sehen sollte.
Das Heidentum bietet eine verlockende Alternative. Wir Menschen, so suggeriert es, sollen keine arrogante Überlegenheit über die Natur beanspruchen – wir sind nur ein Teil von ihr. Wie eine grüne Hexe, die sich selbst als solche bezeichnet, dem amerikanischen online Magazin Quartz erklärte, beinhaltet ihr Glaube „eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und dem Naturgesetz, eine Aufmerksamkeit für die Zyklen der Erde und das Leben in ihr“. Die Natur sei mit göttlicher Kraft aufgeladen, wie der alte Pantheismus lehrte; welchen Gott es auch geben mag, er wohnt immer in ihr, nicht außerhalb von ihr. Das Gerede von der menschlichen Besonderheit verdeckt unsere Verwandtschaft mit anderen Lebewesen.
Diese vorchristlichen Ideen tauchten im 19. Jahrhundert wieder auf und entwickelten sich parallel zur Industrialisierung weiter. Im Jahr 1939 wurde zum Beispiel Folgendes von einem anonymen Autor propagiert:
Für uns manifestiert sich Gott überall in der Natur, denn die Natur ist heilig, und wir verehren in ihr die Offenbarung eines ewigen Willens. So gesehen ist das Tier in unseren Augen eigentlich ein ‚kleiner Bruder‘, und unsere Sensibilität hält den Angriff auf einen Menschen, der sich selbst verteidigen kann, für moralisch vertretbarer als jede Grausamkeit gegenüber einer wehrlosen Kreatur.
Diese Überlegungen erschienen in der SS-Zeitschrift „Schwarzes Korps“ und werden in Johann Chapoutots 2016 erschienenem Buch „Das Gesetz des Blutes: Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg“ zitiert. Das Buch ist eine faszinierende Untersuchung darüber, wie eine so sanfte Idee – die Heiligkeit der Natur, die Tiere als unsere kleinen Brüder – benutzt wurde, um das am wenigsten sanfte und heilige Verhalten zu rechtfertigen, das es je gab.
Nicht, dass die Schlussfolgerungen der Nazis unvermeidlich wären, wie wir an der Vielfalt des modernen Heidentums sehen können. Zumeist wird einfach die Harmonie mit der Natur gesucht. Aber die Natur ist auch hart und brutal, und eine Ideologie, die „in ihr die Offenbarung eines ewigen Willens anbetet“, öffnet sich für die dunkle Seite ihres Gesetzes.
Die Nazis konzentrierten sich auf bestimmte wissenschaftliche Fakten, die ein grünes Heidentum lieber nicht sehen möchte. Die wichtigste Lehre, die sie aus der Natur zogen, war die der systematischen Grausamkeit: die Beherrschung der Schwachen durch die Starken, die Eliminierung der Untauglichen, der gnadenlose Wettbewerb ums Überleben. „Alles Leben ist Kampf“ ist der Titel eines Propagandafilms aus dem Jahr 1937, der für Eugenik und eine Sterilisationskampagne wirbt. Der Film zielt darauf ab, die Zuschauer von jeglichem Rest christlicher Prägung zu befreien, der sie dazu verleiten könnte, die Schwachen zu schützen. Zwischen Szenen mit kämpfenden Hirschen, Affen und Wildschweinen mahnen die Zwischentitel: „[Es] wird nur das beste Erbgut fortgepflanzt … Das Schwache und Lebensuntüchtige muss dem Starken weichen. Die Natur lässt nur beste Lebenskraft bestehen.“
Das ist eine düstere Vision. Doch gemessen an den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie kommt das Naturverständnis des Films der Realität näher als das der modernen Stonehenge-Pilger die dort Sonnwend feiern. Verhängnisvollerweise geht der Film noch einen Schritt weiter und rät seinen Zusehern, ganz im Einklang mit der Natur zu leben und sich ihre rücksichtslosen Methoden zu eigen zu machen. Im Gegensatz zu den Lehren der abrahamitischen Religionen legt er nahe, dass der Mensch keine Ausnahme vom Gesetz des Überlebens des Stärkeren ist und dies auch nicht sein sollte. Die christliche Lehre, nach der die einzigartige Berufung des Menschen darin besteht, als Verwalter der Schöpfung an Gottes Stelle zu handeln, wird zugunsten der Annahme unserer biologischen Triebe abgelehnt. Heinrich Himmler äußerte diese Ideen 1942:
Das Wesen dieser größenwahnsinnig Gewordenen, auch gerade der Christen, die von einer Beherrschung dieser Erde durch die Menschen reden, muß einmal abfallen und in die richtigen Maße zurückgeschraubt werden. Der Mensch ist gar nichts Besonderes. Er ist irgendein Teil auf dieser Erde…. In diese Welt muß er wieder tief ehrfürchtig hineinsehen.
Das klingt geradezu bescheiden, wenn man vergisst, dass Himmler damals Soldaten zum Völkermord anspornte, um den Lebens-raum des deutschen Volkes zu erweitern. Dieses „ehrfürchtig hineinsehen“ bedeutete das Ausmerzen „vermeintlich unnatürlicher“ Hemmungen, wie etwa Mitleid mit den Opfern. Ein gleich-gesinnter Eugenik-Professor formulierte dies 1937 in einer Vorlesung so: „Wir sind alle ein Teil der Natur, wir sind das Ergebnis der Naturgesetze. Warum sollte unsere Intelligenz vom Verständnis der Naturgesetze abschweifen, um irgendeine Art von 'Metaphysik', etwas 'Übernatürliches' zu erforschen?“ Die Natur ist alles, was es gibt, und gegen ihr Gesetz gibt es keinen Einspruch. Ähnliche Autoren führten den Glauben des Christentums an das Übernatürliche und seine angebliche Verachtung der Natur auf sein jüdisches Erbe zurück. Wie der SS-Führer Richard Walther Darré erklärte, teilen Juden und Christen den Glauben an „Jahwe, den rachsüchtigen, östlichen, nicht einheimischen Gott der Wüsten, der gekommen ist, um die Wälder und Seen des grünen Europas zu verwüsten.“ Wie eine invasive Mikrobe drohte die körperverleugnende Spiritualität des aus dem Judentum stammenden Christentums die Freude der einheimischen Europäer am leiblichen Leben zu zerstören.
Es lohnt sich zu fragen, ob wir daraus irgendwelche Lehren ziehen können. Immerhin handelt es sich hier um den anschaulichsten Testfall einer ehemals christlichen Gesellschaft, die sich für eine Rückkehr zum Naturgesetz entschied. Es veranschaulicht die äußeren Auswirkungen einer bestimmten Form des Heidentums. Leugnet man jegliche Distanz zwischen Mensch und Natur, beginnt man unvermeidlich an das „Recht des Stärkeren“ zu glauben.
In einem zunehmend postchristlichen Zeitalter gewinnen die Begebenheiten der dreißiger Jahre wieder an Bedeutung. Natürlich wäre es töricht, diese mit der heutigen Zeiten gleichzusetzen. Aber bestimmte Parallelen sind schwer zu leugnen. Der Glaube, dass behindertes Leben nicht lebenswert sei, hat beispielsweise durch die systematische Abtreibung von Babys mit Down-Syndrom und die Euthanasie von Menschen mit Behinderungen wieder Fuß gefasst. Beide Praktiken sind heute weit verbreitet und werden in der Regel von progressiven Menschen mit Sympathien für den Umweltschutz vertreten. Die neue Rechte mit ihren bronzezeitlichen Phantasien von „Sonne und Stahl“ hat ihrerseits ebenfalls wenig gegen die neue Eugenik einzuwenden. Ihre Vertreter bevorzugen Starke gegenüber Schwachen, verhöhnen die christliche Nächstenliebe und sind besessen von vermeintlichen rassischen Unterschieden, auch indem sie den überwunden geglaubten Antisemitismus wiederbeleben. Das entchristlichte „Naturgesetz“ hat eine Gabe dafür, immer wieder in neuen Gewändern aufzutauchen.
Im Widerspruch zu seinen Kritikern ist die Beziehung des Christentums zur Natur nicht von Verachtung oder Distanz geprägt. Nach einer alten Tradition der Kirche darf die Natur zwar nicht die Quelle unseres Gesetzes sein, aber trägt dennoch Bedeutung: als ein Buch, das gelesen werden muss. Diese Metapher wird Antonius dem Großen zugeschrieben, einem Wüstenvater aus dem dritten Jahrhundert. Antonius war ein ungebildeter Schweinehirte, der fünfzehn Jahre als Einsiedler in der ägyptischen Wildnis verbrachte, bevor er eines der ersten christlichen Klöster gründete. Da er die Heilige Schrift nicht lesen konnte, wandte er sich der Natur zu: „Mein Buch ist die geschaffene Natur, ein Buch, das mir immer zur Verfügung steht, wenn ich Gottes Worte lesen will.“
Wie ein Tolstoi-Roman mit seinen Dutzenden von Figuren und einer kompliziert verwobenen Handlung hört das Buch der Natur, zu lange beiseite gelegt, schnell auf, Sinn zu ergeben. Der verwirrte Leser ist gezwungen, wieder von vorne anzufangen.
Mitte zwanzig, hatte ich plötzlich viel Zeit für mich allein. Nach der Arbeit ging ich täglich in den Wäldern Pennsylvanias spazieren. Meistens begegnete ich irgendwo auf dem Weg Arthur Woolston, einem englischen Naturforscher und Bruderhof-Mitglied, der damals über achtzig war.
Arthur war ein kleiner Mann mit kurzem weißen Bart, einem Fernglas und einem Gesicht, das Freude ausstrahlte. Immer wieder hielten wir inne und er wies mich auf verschiedene Dinge hin: die genaue Bezeichnung eines Farns oder Pilzes, die Anwesenheit einer versteckten Einsiedlerdrossel, wie man den Spitz- vom Zuckerahorn unterscheidet. Seine Familie war besorgt wegen seiner langen einsamen Wanderungen – er hatte ein Herzleiden –, aber niemand wagte es, ihn zu bitten, damit aufzuhören. Die Intensität seiner Freude an der Natur schien mit fortschreitendem Alter zuzunehmen. Arthur war ein wandelndes Lexikon für Vögel, Bäume, Insekten und Tierspuren. Seine Verwandten liehen mir einmal seine unveröffentlichte Autobiografie, vierhundert getippte Seiten, die sein Wanderleben in Großbritannien, Süd- und Nordamerika beschreiben. Darin zählte er liebevoll ein Dutzend Vögel und Wildblumen auf, die er an einem Tag im Jahr 1946 auf dem Weg zu seiner Arbeit in einem Sägewerk im Dschungel Paraguays gesehen hatte, und benannte die Arten sowohl auf Englisch als auch auf Latein.
Um das buch der natur zu lesen, muss man tatsächlich aufmerksam sein – hinausgehen und den Blick auf die Sterne, einen Wald oder ein Reh richten. Ohne diese Praxis ist das Buch unlesbar, und es ist schwierig, die Aussage des Psalmisten zu verstehen, dass „die Himmel die Herrlichkeit Gottes verkünden und das Firmament von den Werken seiner Hand erzählt.“ In ähnlicher Weise wird es schwer sein, dem Argument des Apostels Paulus zu folgen, dass das, „was man über Gott wissen kann, für [die Menschen] klar ist, weil Gott es ihnen gezeigt hat. Denn seine unsichtbaren Eigenschaften, nämlich seine ewige Macht und sein göttliches Wesen, sind seit der Erschaffung der Welt an den Dingen, die gemacht sind, deutlich zu erkennen.“
Wie kann das sein, wenn die Natur so grausam ist, wie uns die Evolutionsbiologie lehrt? Weit davon entfernt, eine friedliche Einheit zu manifestieren, ist sie so „zähnefletschend“, wie Darwin beschrieb, und besitzt nicht nur Schönheit und Ordnung, sondern auch Krankheitserreger und Parasiten. „Alles Leben ist Kampf“ ist nur teilweise falsch; die Rücksichtslosigkeit, die die Nazis bewunderten, ist unbestreitbar vorhanden.
Obwohl er vierzehn Jahrhunderte vor Darwin lebte, rang Augustinus von Hippo mit ähnlichen Fragen und wunderte sich in seinen Bekenntnissen zum Beispiel, wie ein guter Gott abstoßende Insekten erschaffen haben konnte. Augustinus sah das Buch der Natur nie als statische Vollkommenheit, harmonisch und unschuldig. Stattdessen beschrieb Augustinus – um Rowan Williams zu zitieren – die Naturphänomene als das Ergebnis einer Welt im Wandel, in der nichts außer Gott unveränderlich oder unsterblich ist und in der beständig konkurrierende Kräfte am Werk sind, die sich gegenseitig beeinflussen. Wir müssen anerkennen, so Augustinus, dass nicht alles in der Natur geordnet, zweckmäßig oder schön ist. Dennoch zeigt die Natur eine bemerkenswerte Tendenz zu Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit. In dieser Tendenz, so glaubte er, können wir die Hand eines guten Schöpfers erkennen. In der Wissenschaft ist die Fassbarkeit der Natur, ihre Tendenz zur Ordnung, selbst ein Wunder. „Das ewige Geheimnis der Welt ist ihre Begreifbarkeit“, sagte Einstein. „Die Tatsache, dass sie fassbar ist, ist wahrhaftig ein Wunder.“ Das Universum läufft nicht willkürlich, sondern nach erkennbaren Naturgesetzen ab, die (soweit wir wissen) immer und überall gültig sind. Die maximale Lichtgeschwindigkeit, die Gesetze der Schwerkraft und die Masse eines Elektrons sind offenbar überall im Universum und in jedem Stadium seiner Entwicklung gleich. Diese Gesetze können zudem durch die Mathematik beschrieben werden – ein logisch kohärentes und rein intellektuelles System, das dennoch der tatsächlichen Realität entspricht. Der Physiker Eugene Wigner meint dazu: „Der enorme Nutzen der Mathematik für die Naturwissenschaften grenzt an ein Rätsel … Es gibt keine rationale Erklärung dafür.“
Solche Überlegungen sind natürlich kein Beweis dafür, dass die christliche Sicht der Natur richtig ist. Aber sie stehen im Einklang mit ihr. Eine der Kernaussagen des Christentums ist, dass das Universum durch den Logos erschaffen wurde. Der griechische Begriff kann zwar mit „Wort“ übersetzt werden, hat aber viele Bedeutungen. Er geht auf die großen griechischen Philosophen zurück, wie Platon und Heraklit, die schon früh den Logos als göttlich betrachteten. Als schöpferisches Prinzip der Verständlichkeit und Harmonie gab er dem Kosmos Gestalt. Zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments, so der Gelehrte Giuseppe Tanzella-Nitti, waren in der griechischen Philosophie die Begriffe Logos, Schöpfer der Schöpfung und Seele der Welt alle zu Synonymen für Gott geworden. Dies ist die Bedeutung von „das Wort“, wie es am Anfang des Johannesevangeliums erscheint: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und der Logos war Gott. Er war im Anfang bei Gott. Durch ihn ist alles geschaffen, und ohne ihn ist nichts geschaffen worden, was geschaffen ist.“ Die Natur ist die Schöpfung einer Vernunft, die ihr vorausging und sie übersteigt.
Bis hierher geht Johannes auf die Griechen ein. Aber dann begibt er sich dorthin, wo sie nie hingekommen sind: „Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ Der Logos selbst ist in seine Schöpfung als der Mensch aus Fleisch und Blut Jesus von Nazareth eingetreten und dabei geblieben, wer er ist. Das heißt, er überschritt die Distanz zwischen Gott und dem Menschen, die größer war als die zwischen Mensch und Tier. Wenn wir das Buch der Natur aufschlagen, ist dies das Wort, das wir lesen sollen. Diese Einsicht stand im Mittelpunkt des Denkens des radikalen Reformators Hans Hut, dessen Hauptthema „das Evangelium aller Kreaturen“ war. Für ihn verkompliziert das Problem des Leidens das Buch der Natur nicht, sondern ist vielmehr der Schlüssel zu dessen Verständnis. Hut war ein reisender Buchhändler aus Thüringen, der als Partisan im deutschen Bauernaufstand von 1525 kämpfte. Er überlebte das Massaker an den Bauern, das den Aufstand beendete, und schloss sich der Täuferbewegung an. Schon bald reiste er als Missionar durch Mitteleuropa, zu einer Zeit, in der eine Gefangennahme sehr wahrscheinlich den Tod bedeutete. Er wurde 1527 verhaftet, gefoltert und starb drei Monate später im Gefängnis. Am nächsten Tag wurde sein Leichnam vor Gericht geschleppt, formell zum Tode verurteilt und dem Scheiterhaufen übergeben.
Hut war ein Mystiker in der mittelalterlichen Tradition von Thomas von Kempen und Meister Eckhart, die die Nachfolge Christi im täglichen Leben lehrten. Sein kurzes, sechzehnmonatiges Wirken im Untergrund war außerordentlich produktiv. Er verfasste Briefe und Gedichte, aus denen wir den Inhalt seiner Predigten ablesen können.
Wie Antonius der Große betonte Hut, dass das Evangelium der Schöpfung im Gegensatz zur geschriebenen Bibel für alle zugänglich sei, für Gebildete und Analphabeten, Reiche und Arme. Die besondere Kraft von Huts Ansatz liegt in seiner Betonung des Leidens. Die Geschöpfe predigen nicht in erster Linie durch ihren Zweck oder ihre Schönheit, sondern durch ihr Leiden: „In allen Gleichnissen [Christi] ist bemerkenswert, dass die Geschöpfe unter den Auswirkungen des menschlichen Handelns leiden. Durch diesen Schmerz erreichen sie ihr Ziel, das heißt das, wofür sie geschaffen wurden. Wenn man ein Tier nutzen will, muss es zunächst nach menschlichem Willen behandelt werden. Es muss zubereitet, gekocht und gebraten werden. Das heißt, das Tier muss leiden.“
Der Kummer der Kreaturen muss für Hut eine besondere Bedeutung gehabt haben. Er wusste dass seine Kameraden, darunter eine seiner Töchter, einer nach dem anderen hingerichtet wurden, und er selbst nicht mehr lange zu leben hatte. Natürlich, so räumte Hut ein, leiden die Tiere unfreiwillig, während seine eigene Bereitschaft zur Selbstaufopferung gewählt war. Dennoch gab es für ihn eine Analogie. Im Leiden der Tiere sah er ein Symbol für das, was die Nachfolge Christi verlangt: „Im Evangelium der Kreaturen wird nichts anderes gepredigt als Christus, der Gekreuzigte … Diesen Christus zu predigen ist das, was alle Kreaturen lehren.“
Huts Evangelium motiviert, das Buch der Natur zu lesen. Der Logos ist nicht nur der kosmische Schöpfer von Galaxien, Myonen und der allgemeinen Relativitätstheorie. Er ist auch ein Mann der Schmerzen, der gelitten hat und gestorben ist, und dessen Zeichen das Osterlamm ist. In ihm ist die Traurigkeit der Geschöpfe nicht aufgehoben – zumindest noch nicht. In der Apokalypse des Johannes kommt es zu einem Höhepunkt, an dem „alle Kreaturen im Himmel und auf der Erde“ beteiligt sind. Sie versammeln sich um den göttlichen Thron, neben dem der Logos als Lamm steht. Ihm wird eine Schriftrolle übergeben – ein Buch mit Antworten auf das Rätsel des Leidens der Schöpfung, das nur er öffnen kann. Mit einer Stimme verkünden die Geschöpfe, dass Herrlichkeit und Macht dem geschlachteten Lamm gehören.