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Im Zeichen des Lammes
Einige der wichtigsten Lebenslektionen lernte ich von meinem Vater in unserem Stall.
von Norann Voll
Dienstag, 9. Juli 2024
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Ich war in der dritten Klasse, als mein Vater mich zum ersten Mal bei einer Lamm-Geburt helfen ließ. Seit einem Jahr hatte ich mir gewünscht, bei diesem besonderen Ereignis dabei zu sein, als er endlich die Worte sprach, auf die ich gewartet hatte: „Füll einen Eimer Wasser, Nora, und mach ihn heiß.“
In dieser ersten Nacht kamen die Lämmer schnell. Papa war geduldig, er massierte und zog abwechselnd und sprach sanft mit dem Mutterschaf.
„Du arbeitest nur mit dem Mutterschaf mit; Es weiß, dass du hier bist, um zu helfen. Achte auf seine Augen und Ohren. Sie sagen dir genau, was los ist“, versicherte er mir.
„Ja, natürlich haben sie Schmerzen, aber wenn man mit ihnen spricht, beruhigen sie sich. Vergiß nie: Es ist ein Ringen, geboren zu werden, und es ist ein Ringen, zu sterben. Wir alle brauchen am Anfang unseres Lebens Hilfe, genauso wie wir sie am Ende unseres Lebens brauchen.“
Als endlich Zwillinge im Sägemehl lagen und das Mutterschaf sie abschleckte, um sie zum Aufstehen zu bewegen, sah ich Papa an. Seine Augen leuchteten so blau wie Zichorienblüten und sein Gesicht war nass von Tränen. „Kein Mensch kann einen Anfang erschaffen, Nora“, sagte er, „und kein Mensch kann ein Ende erschaffen. Es liegt alles in Gottes Hand.“
Gegen Ende der Geburt half mein Vater dem Mutterschaf immer. Aber in den bangen Stunden vor der Geburt oder wenn nicht sicher war, ob die Mutter ihr Neugeborenes versorgen würde, riet er: „Lass der Natur ihren Lauf. Das ist das Schwier-igste für uns Menschen, aber es ist das Beste. Mutter Natur weiß, wie man sich um die Dinge kümmert.“
Ich konnte es kaum ertragen, „der Natur ihren Lauf zu lassen“, als der Hund eines Nachbarn zwei trächtige Mutterschafe in den Wald jagte und ein drittes vom Ohr bis zur Schulter zerriss. Papa war wütend und ruhig. Er machte sich auf die Suche nach den vermissten Mutterschafen, während ich dem Arzt half, das verletzte Schaf zu versorgen.
Wir nähten den ganzen Nachmittag lang zerrissene Haut- und Wollfetzen wieder zusammen. Der Arzt war zuversichtlich, dass sich das Schaf erholen würde: „Mit diesem Antibiotikum wird es wieder gesund. Lass der Natur einfach ihren Lauf.“
Dieses Mal hatte ich kein Vertrauen in die Natur. Das Mutterschaf blieb bis in den späten Abend regungslos liegen und verweigerte Trinken und Essen. Währenddessen kehrte Papa niedergeschlagen zurück. Es war ihm nicht gelungen, die verlorenen Schaf zu finden.
Es war Pfingsten, und an diesem Abend sang unsere Gemeinde Ausschnitte aus dem Paulus-Oratorium von Mendelssohn. Danach gingen mein Vater und ich zur Scheune, um einen Blick auf das verletzte Schaf zu werfen. Ich hielt Vaters Hand und gestand ihm, dass ich den Text eines Chorals verändert hatte. Ich wollte, dass Gott das hört.
„Hört er auch bei Schafen zu?“
„Natürlich, aber was hast du gesungen?“
„Ich sang: ‘Erleuchte Schafe die verblendt, bring Schafe heim, die von uns getrennt; versammle Schafe, die zerstreuet geh’n, mach fester Schafe, die im Zweifel steh’n.’ Ich habe es für die Schafe gesungen, die heute Nacht draußen in den Wäldern sind.“
Papa sagte eine Weile nichts, aber er drückte meine Hand fest, während wir weitergingen. Als wir bei der Scheune ankamen, war das verletzte Mutterschaf aufgestanden und trank.
„Wir alle sind verlorene Schafe, Nora“, sagte mein Vater auf dem Heimweg, „und wir alle sind Gottes Schafe, immer. Selbst wenn wir denken, dass wir zu niemandem gehören, ist er doch unser Vater. Es gibt Zeiten, da denken wir, dass wir außerhalb der Weide glücklicher wären, aber Er weiß, dass wir wirklich glücklich sind, wenn unsere Grenzen klar und wir sicher sind.
Und es gibt andere Zeiten, da denken wir, dass wir verloren sind, aber vor allem dann hält Er uns die ganze Zeit. Die ganze Zeit.“
„Führt er die Schafe zurück?“
„Das ist Gottes Arbeit. Zurückführen ist seine Hauptaufgabe. Er tut es die ganze Zeit.“
Am nächsten Morgen standen die beiden Mutterschafe blökend vor der Stalltür und verlangten nach Futter.
1998, zwei Wochen vor meiner Hochzeit, brachte ich ein letztes Mal mit meinem Vater Lämmer zur Welt.
Ich kniete im Sägemehl und spürte, dass dies das letzte und wertvollste Mal sein würde, dass wir gemeinsam Leben in die Welt brächten. Es war eine schwere Geburt. Wir arbeiteten bis spät in die Nacht mit dem erschöpften Mutterschaf.
Schließlich kam ein großes, perfektes Lamm auf die Welt. Wir lachten erleichtert auf. Das Mutterschaf drehte sich um; es schien, als würde es über die lustigen Menschen lächeln. Ich sah meinen Vater an und dachte daran, wie sehr ich ihn liebte und wie sehr ich diesen Ort liebte, an dem er mir beibrachte, was er über das Leben wusste. Ich schaute auf die Haarsträhnen, die ihm bei der Arbeit immer in die Stirn fielen, auf seine müden, aber zufriedenen Augen, die saphirblau waren und vor Freude über das neue Leben leuchteten. Und im schummrigen Licht der Scheune, unter dem Schwalbennest, bemerkte ich, dass sein Gesicht von Tränen benetzt war.