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    a crowd sitting on a hillside in Germany

    Ein Gemeinschaftsverlag

    Die Gründung von Plough – und des Bruderhofs

    von Antje Vollmer

    Dienstag, 9. Mai 2023

    Verfügbare Sprachen: français, English

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    Im Frühjahr des Jahres 2014 bekam ich einen Anruf, der mich überraschte. Der Pfarrkonvent des Kirchenkreises Hanau wollte sich, 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit den Auswirkungen dieses Ereignisses auf die eigene Region befassen und sei dabei auf meine Doktorarbeit gestoßen. Ich war erstaunt. 41 Jahre lag diese Dissertation zurück. Sie war nie im Druck erschienen. Damals war sie von meinen Doktorvätern Helmut Gollwitzer und Karl Kupisch angeregt worden, um eine der interessantesten Gruppen der Jugendbewegung näher zu erforschen, die aus den Katastrophen des Ersten Weltkrieges entstanden war und deren Mitglieder bedeutende Einflüsse auf den internationalen Versöhnungsbund, den religiösen Sozialismus und die Bekennende Kirche ausgeübt hatten. Das alles lag auch für mich lange zurück. Gelegentlich war ich von Historikern aus Quellengründen nach einzelnen Mitgliedern oder nach der gesamten Bewegung befragt worden. Aber mein letztes eigenes Exemplar wollte ich dann doch nicht mehr hergeben. Wie konnte ein hessischer Pfarrkonvent davon Kenntnis haben?

    Es stellte sich heraus, dass im Jahre 2002 einige Mitglieder jener Gruppe, deren Anfänge ich nach in meiner Arbeit erforscht hatte, nach allerlei Irrfahrten – nach der Vertreibung durch die Nationalsozialisten 1937, nach Zwischenaufenthalten in England, Siedlungsneuaufbau in Paraguay und der zwischenzeitlichen Vereinigung mit den Hutterischen Brüdern wieder in jenes Paulsche Haus in Sannerz bei Schlüchtern zurückgekehrt waren, wo alles einmal begonnen hatte: der erste Bruderhof, die ersten Pfingsttreffen mit teilweise bis zu 1000 jungen Teilnehmern, die erste Gemeinschaftssiedlung, die Erstellung und Verbreitung einer eigenen fortschrittlichen Zeitschrift.

    Ich hatte bis zu diesem Anruf nichts von einer Rückkehr und diesem Neuanfang gehört, ich wollte das selbst erleben und besuchte, noch vor dem Pfarrkonvent, den wiedererstandenen Bruderhof in Sannerz bei Schlüchtern. Dort traf ich neben den aktuellen Bewohnern viele junge Leute an, die gerade zu Besuch waren und selbst am Ursprungsort erleben wollten, wo die Wurzeln ihrer Gemeinschaft lagen. Ich hörte verwundert, dass die Gäste – aus vielen Ländern kommend – die alten Lieder der Jugendbewegung im deutschen Originaltext auswendig und kräftig singen konnten, als hätten inzwischen nicht 100 Jahre komplizierter europäischer Geschichte stattgefunden. Nach allem war kein Zweifel möglich: Es gab sie noch oder wieder, die Bruderhof-Bewegung, die am Anfang identisch gewesen war mit jener Neuwerkbewegung, die ich einmal als historisch abgeschlossenen Prozess behandelt hatte. Weltweit umfasst sie heute etwa 3000 Mitglieder.

    Postkartenset, entworfen von Otto Salomon, herausgegeben vom Neuwerk-Verlag.

    Postkartenset, entworfen von Otto Salomon, herausgegeben vom Neuwerk-Verlag. Bruderhof Historical Archive

    In der tradierten protestantischen Kirchengeschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts ist die Neuwerkbewegung weitgehend unbekannt geblieben, obwohl in ihrem näheren oder ferneren Umkreis und in ihrer Zeitschrift so bekannte Theologen, Wissenschaftler und Sozialpolitiker wie Karl Barth, Paul Tillich, Eugen Rosenstock-Huessy, Eduard Heimann, Carl Mennicke, Günther Dehn, Otto Piper, Gertrud Staevens, Hilda Heinemann, Helmut Gollwitzer, Harald Poelchau, Jörg Zink, Alfons Paquet und Emil Blum auftauchten. Mag diese Tatsache zunächst verwundern, so teilt die Neuwerkbewegung doch dieses Schicksal des Vergessenwerdens mit manchen der fortschrittlichen sozialen Bewegungen der kurzen Epoche zwischen den beiden Weltkriegen, an denen die Weimarer Zeit durchaus reich war. Teils fielen sie dem Vergessen anheim, weil sie angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus letztlich als erfolglos angesehen wurden, teils wurden sie sogar als mehr oder weniger bewusste oder unbewusste Vorläufer jener Epoche denunziert. Das galt für viele Gruppen der Jugendbewegung, deren Kultur und Lebensweise später von der bündischen Jugend und dann den NS-Jugendverbänden fast vollständig okkupiert wurden, weil ihre Ausstrahlung und Faszination für junge Menschen als erwiesen galt. Dieses Schicksal, allein unter dem Gesichtspunkt der Missbrauchbarkeit und der Finalität in der nationalsozialistischen Ideologie beurteilt zu werden, teilt die Jugendbewegung übrigens mit vielen fortschrittlichen Bewegungen der Weimarer Zeit, beispielsweise mit den Organisationen der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften, der Naturschutz- und Sportbewegungen, der Frauenverbände und vieler kreativer kultureller Gruppen. Und doch lohnt ein genauerer Blick, um sich vor allzu schnellen historischen Verurteilungen und Ressentiments zu schützen. Was in jenen harten Jahren zwischen den Kriegen gedacht und gehofft wurde, wie die Traumata des Krieges fortwirkten, welche Hoffnungen auf eine gerechtere Welt geträumt und welche Reformprojekte gewagt wurden, verdient auch heute noch ein offenes Interesse.

    Hauptquelle für die Geschichte der Neuwerkbewegung sind die nahezu vollständig erhaltenen 15 Jahrgänge jener Zeitschrift, die der Bewegung ihren Namen gab und die in den Jahren 1919 bis 1935 mit jährlich circa 500 eng bedruckten Seiten erschien. In ihr spiegelt sich die lebhafte Diskussion wider, mit der die Mitglieder und Protagonisten des Neuwerk den Problemen ihrer Zeit gerecht zu werden versuchten. Dazu gehörte die Auseinandersetzung mit den Ursachen des Krieges, die Ausrichtung der Jugendbewegung in eigener Selbstbestimmung zwischen nationalistischen und kommunistischen Tendenzen und Fragen des Pazifismus und einer gerechten Gesellschaftsordnung ebenso wie das Plädoyer für Gemeinschaftssiedlungen, Arbeiterbildung, Reform- und Volkshochschulen, genaue Beschreibungen der sozialen Lage der Arbeiter und Arbeitslosen in den Großstädten und Analysen der Bedrohungen der Demokratie in der Instabilität der Weimarer Republik und der Weltwirtschaftskrise.

    Die Sprache vieler Artikel ist besonders in den Anfangsjahren ungewöhnlich: jung, charismatisch, schwärmerisch-verstiegen, polemisch.

    Im Nachhinein will es mir scheinen, dass ich durch diese Lektüre meiner frühen Jahre ganz gut vorbereitet wurde auf die Sprache, Themen, Kämpfe, Leidenschaften, Lebensexperimente und Charaktere, auf die ich dann zehn Jahre später bei den ersten Grünen im Deutschen Bundestag traf.

    Der Aufbruch der Neuwerkbewegung wäre niemals denkbar gewesen ohne Eberhard Arnold. Ihm allein ist es gelungen, innerhalb kurzer Zeit in ganz Deutschland so viele junge Menschen für seine Sache zu entflammen, dass bereits 200 bis 300 von ihnen dem Ruf nach Schlüchtern zum ersten Pfingsttreffen 1920, der Geburtsstunde der Neuwerkbewegung, folgten.

    Alle, die Eberhard Arnold kannten, berichten von der außerordentlichen Ausstrahlungskraft seiner Person, dem Enthusiasmus seines Glaubens, der der Glaube der Bergpredigt war, von seiner Radikalität im Durchführen der Aufgabe, zu der er sich berufen wusste. Am überschwänglichsten gibt H. J. Schoeps diesen Eindruck 1956 wieder:

    Ich erinnere mich an einen hoch aufgeschlossenen Mann von etwa 45 Jahren im Rippelsamtanzug, mit strahlenden braunen Augen, die zugleich freundlich fordernd auf einen hinuntersahen. Er sah in jeder Hinsicht ungewöhnlich aus, als er einmal in Berlin war und vor der Staatsbibliothek Unter den Linden stand, bildeten die neugierigen Berliner einen Kreis um ihn und guckten sich die Augen aus . . . Ich stehe nicht an, zu erklären, dass hier Kräfte aus einer anderen Welt am Werke waren und Eberhard Arnold ihr ausgewähltes Medium gewesen ist. Hätte er einige Jahrhunderte früher als Katholik gelebt, würde er heute wohl in einem Heiligenkalender stehen.

    Vor dem Ersten Weltkrieg waren Eberhard und seine Frau Emmy prominente Persönlichkeiten in der evangelikalen Erweckungsbewegung gewesen. Im August 1914 erhielt Eberhard Arnold einen Stellungsbefehl und reiste sofort zu seiner Reserveeinheit an der Ostfront ab, wurde aber bald als kriegsuntauglich befunden. 1916 übernahm er als literarischer Direktor die Aufgabe, den christlichen Furche-Verlag mit aufzubauen.

    Eberhard Arnold und Kollegen begutachten ein Manuskript für den Schriftsatz

    Eberhard Arnold (Mitte) sichtet ein Manuskript für den Schriftsatz Bruderhof Historical Archive

    Die Novemberrevolution hat die Familie Arnold intensiv miterlebt. Sie befestigte den schon im Krieg gewachsenen Entschluss, von nun an radikal verstandenes Christentum und sozialrevolutionäre Weltgestaltung nicht mehr auseinanderreißen zu lassen. Von diesem Zeitpunkt an datieren die Treffen im Hause Arnold, zu denen jeweils bis zu 100 Jugendliche kamen: Anarchisten und Mitglieder christlicher Jugendvereine, Atheisten und Quäker, Proletarier und Intellektuelle. Allen gemeinsam war die Suche nach einem neuen Sinn des Daseins und neuen Formen des Lebens, die den Frieden und die soziale Gerechtigkeit stärken. Man las und diskutierte: Tolstoi, Dostojewski und immer wieder: die Bergpredigt.

    In den Jahren 1919/20 reifte in Eberhard Arnold immer mehr die Erkenntnis, dass die neue Sicht der Bergpredigt und eines radikal verstandenen Christentums nicht länger Theorie bleiben könne, sondern ihn auch praktisch dazu zwinge, seine bürgerliche Existenz in Steglitz aufzugeben und nach neuen, ursprünglichen Lebensformen zu suchen.

    Kurz nach der Pfingsttagung, am 21. Juni 1920, übernahm Eberhard Arnold das Paulsche Haus mit neun Morgen Land und Wiesen in Sannerz bei Schlüchtern, um hier seine erste Siedlung aufzubauen. In einem Brief aus demselben Jahre schreibt er:

    [Es geht] darum, dass unsere religiös-soziale Bewegung und unsere frei von Christus bewegte Jugend auf gemeinsame Arbeit und Siedlungsgemeinschaft hindrängt. Wir brauchen ein Lebenszentrum auf dem Lande, in welchem wir wandernden Gruppen eine schöne Bleibe bieten, in welchem wir zugleich einen Zusammenschluss verschiedener Arbeitsgruppen zu produktivem Schaffen und gegenseitigem Güteraustausch herbeiführen. Es handelt sich um eine Lebensgemeinschaft, die Arbeitsgemeinschaft, Tischgemeinschaft, Gütergemeinschaft und Glaubensgemeinschaft sein soll.

    Die Zeitschrift und der Verlag der Neuwerkbewegung sind die Vorläufer des Plough. Die Gestapo löste 1937 sowohl die Gemeinschaft als auch den Verlag gewaltsam auf, aber das „Neue Werk“ wurde in England weitergeführt, wo die erste Ausgabe der umbenannten englischsprachigen Zeitschrift The Plough im März 1938 erschien.


    Auszug aus Antje Vollmer, Die Neuwerkbewegung: Zwischen Jugendbewegung und religiösem Sozialismus (Herder, 2016), leicht überarbeitet von Daniel Hug.

    Von

    Antje Vollmer war eine evangelische Pfarrerin und Politikerin der Grünen. Von 1994 bis 2005 war sie Vizepräsidentin des Bundestages.

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