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CheckoutDer geheimnisvolle Gast Teil 1
Auszug aus dem Klassiker: „Die Brüder Karamasow,“
von Fjodor Dostojewski
Dienstag, 19. Januar 2021
Er war längst schon in unserer Stadt ansässig. Er war Beamter, nahm eine bedeutende Stellung ein, war allgemein geachtet, reich und als wohltätig bekannt. Er hatte ein beträchtliches Kapital für ein Armenasyl und ein Waisenhaus gestiftet und außerdem viel Gutes im Verborgenen getan, ferne der Öffentlichkeit, wie sich später, bei seinem Tode, herausstellte. Er war an die fünfzig Jahre alt, hatte ein fast strenges Aussehen und war wenig redselig. Geheiratet hatte er aber erst vor zehn Jahren eine noch ganz junge Frau, von der er drei noch minderjährige Kinder hatte.
Und da sitze ich denn am Abend darauf bei mir zu Hause, als sich plötzlich die Tür öffnet und dieser selbe Herr eintritt. Ich muss dabei bemerken, dass ich damals schon nicht mehr in meiner früheren Wohnung hauste: als ich nur eben meinen Abschied eingereicht hatte, war ich umgezogen und hatte mich bei einer alten Frau, einer Beamtenwitwe, eingemietet und dabei abgemacht, dass ihr Dienstmädchen auch bei mir Dienst tue, denn ich war nur deshalb in diese Wohnung eingezogen, weil ich den Afanasi noch an dem gleichen Tage, als ich vom Duell zurückgekehrt war, in die Kompagnie zurückgeschickt hatte; ich schämte mich ja, ihm in die Augen zu blicken nach meinem Verhalten zu ihm von vorhin – so sehr geneigt ist der nicht vorbereitete Weltmensch, sich bisweilen selbst seines allergerechtesten Handelns zu schämen.
„Ich,“ spricht zu mir der Gast noch im Eintreten, „höre Ihnen schon einige Tage in verschiedenen Häusern mit großem Interesse zu und hatte endlich gewünscht, persönlich mit Ihnen bekannt zu werden, um mit Ihnen noch eingehender über das alles zu sprechen. Können Sie, mein Herr, mir einen so großen Dienst erweisen?“ „Ich tue das,“ so spreche ich, „mit sehr großem Vergnügen und werde es mir als eine besondere Ehre anrechnen!“ Ich sage ihm dies ruhig, selber aber war ich fast erschrocken: einen so großen Eindruck hatte er damals auf mich gleich von Anfang an gemacht. Denn wenn man mir auch zuzuhören und mir Interesse entgegenzubringen pflegte, so war doch noch niemand zu mir gekommen mit einem so ernsten, strengen und nach innen gerichteten Blick. Und dabei war er noch selber zu mir in die Wohnung gekommen! Er setzte sich.
„Eine seltene Charakterstärke,“ so fährt er fort, „nehme ich an Ihnen wahr, denn Sie haben keine Furcht gehegt, der Wahrheit zu dienen in einer Angelegenheit, in der Sie Gefahr liefen, für Ihre Aufrichtigkeit der allgemeinen Verachtung zu verfallen!“ „Sie loben mich vielleicht in allzu übertriebener Weise!“ sage ich ihm. „Nein, durchaus nicht in übertriebener Weise!“, antwortet er; „glauben Sie mir, einen solchen Schritt zu tun, ist bei weitem schwerer, als es Ihnen scheint. Ich,“ spricht er, „bin eigentlich nur davon betroffen gewesen, und deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen. Beschreiben Sie mir, wenn Ihnen meine vielleicht so unwürdige Neugierde nicht gerade zuwider ist, was Sie denn eigentlich in jener Minute empfunden haben, als Sie sich, noch während des Zweikampfes, entschlossen, um Entschuldigung zu bitten –wenn Sie sich nur daran erinnern. Halten Sie meine Frage nicht für leichtsinnig, ich habe ganz im Gegenteil, wenn ich eine solche Frage stelle, meine geheime Absicht, die ich Ihnen auch wahrscheinlich in der Folgezeit kundgeben werde, wenn es Gott gefällig sein wird, uns einander noch näherkommen zu lassen!“
Beschreiben Sie mir, was Sie denn eigentlich in jener Minute empfunden haben, als Sie sich, noch während des Zweikampfes, entschlossen, um Entschuldigung zu bitten …
Die ganze Zeit über, während er sprach, hatte ich ihm gerade in die Augen gesehen, und plötzlich flößte er mir größtes Zutrauen ein und außerdem auch eine außergewöhnliche Neugierde, denn ich fühlte es, dass ein ganz besonderes Geheimnis ihm auf der Seele liege. „Sie fragen mich, was ich eigentlich in jenem Augenblick empfand, als ich meinen Gegner um Verzeihung bat?“ antwortete ich ihm. „Ich werde Ihnen aber lieber ganz von Anfang an erzählen, was ich den anderen noch nicht erzählt habe.“ Und ich erzählte ihm alles, was zwischen mir und dem Afanasi vorgefallen war, und wie ich mich vor ihm bis zur Erde verneigt hatte. „Hieraus können Sie selber ersehen,“ schloss ich, „dass es mir schon während des Zweikampfes leichter war, um Verzeihung zu bitten, denn ich hatte bereits zu Hause damit begonnen und nachdem ich einmal diesen Pfad beschritten hatte, verlief alles weitere nicht nur ohne jede Anstrengung, vielmehr sogar freudig und heiter!“
…, dass es mir schon während des Zweikampfes leichter war, um Verzeihung zu bitten, denn ich hatte bereits zu Hause damit begonnen …
Er hörte mich an und blickte so freundlich auf mich: „Das alles,“ spricht er, „ist außerordentlich interessant, ich werde wieder und wieder zu Ihnen kommen!“ Und er begann von da an fast jeden Abend zu mir zu kommen und wir hätten uns wohl gar sehr angefreundet, wenn er mir auch von sich selber erzählt hätte. Davon sprach er aber fast kein Wort, er fragte vielmehr immer nur mich selber aus. Trotzdem gewann ich ihn außerordentlich lieb und vertraute ihm völlig in allen meinen Gedanken, denn ich denke mir ja: wozu brauche ich denn seine Geheimnisse, auch ohne dies sehe ich, dass er ein gerechter Mensch ist. Zudem ist er aber auch noch ein so ernster und mir an Jahren so überlegener Mensch. Und trotzdem geht er zu mir, einem Jüngling, und verachtet mich nicht.
Und viel Nützliches lernte ich auch von ihm, denn er war ein Mann von hohem Geiste. „Dass das Leben ein Paradies ist,“ spricht er plötzlich zu mir, „daran denke ich lange schon,“ und plötzlich fügt er hinzu: „Ich denke ja überhaupt nur an dies eine!“ Er sieht mich an und lächelt. „Ich bin mehr als Sie,“ spricht er, „davon überzeugt; später werden Sie erfahren weshalb!“ Ich höre dies und denke für mich: „Da will er mir wahrscheinlich ein Geständnis machen“.
zum Teil 2: Der geheimnisvolle Gast
zum Teil 3: Der geheimnisvolle Gast
zum Teil 4: Der geheimnisvolle Gast
In Englisch: The Gospel in Dostoyevsky
Auszug aus:
Das Evangelium in Dostojewski
Aus dem Gesamtwerk ausgewählt, übersetzt und mit Einleitung und Erläuterungen versehen von Karl Nötzel erschienen 1927 im Eberhard Arnold-Verlag / Sannerz und Leipzig als Teil der „Q u e l l e n Lebensbücherei christlicher Zeugnisse aller Jahrhunderte“ herausgegeben von Eberhard Arnold