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    Man sitting on a rock looking at reflection of autumn trees in lake

    Gefährdeter Lebensraum

    Warum unsere Seele Stille braucht

    von Stephanie Bennett

    Dienstag, 31. Juli 2018

    Verfügbare Sprachen: English

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    • Christoph Wahl

      Danke auch für den Link zum Artikel über die Stille, der den Nerv der Zeit trifft und auch mich sehr nachdenklich macht. Stille und Einsamkeit bewusst auszuhalten sind Tugenden die sehr verlorengegangen sind und durch die „sozialen Medien“ sehr verdrängt werden. Das ist für jeden von uns ein großer Kampf dem wir gegenüber stehen. Auch ich mich muss mich dem gegenüber immer wieder kritisch stellen.

    Stille ist im Begriff zu verschwinden. Sie verschwindet, weil man uns dazu trainiert, sie zu hassen.

    Weil die meisten von uns an ständige Bewegung und Geschäftigkeit gewöhnt sind, strukturieren wir unsere Tage so, dass wir Stille um jeden Preis vermeiden. Zum einen ist sie uns unangenehm. Sobald uns auch nur die Aufzugstür mit einer Gruppe von Fremden einschließt, macht sich der innere Zwang, den Raum mit Klang zu füllen, nahezu handgreiflich bemerkbar. Stille gilt als „tote Sendezeit“, um einen Begriff aus der Radiowelt zu borgen. Er beschreibt jede Klanglücke, die länger als eine Sekunde dauert. Doch heute sind es nicht allein die hörbaren Geräusche – das Piepen und die Vibrationen unserer verschiedenen persönlichen technischen Geräte – welche die Stille durchbrechen. Weitaus folgenschwerer ist der Ansturm von Bildern und Worten, mit denen sie täglich die innere Stille unserer Seelen verletzen.

    Das stört die meisten Menschen nur selten, denn Stille ist nicht nur unangenehm, sie kann auch furchterregend sein. Weil sie uns mit unseren Gedanken alleinlässt, zwingt sie uns, über Fragen nachzudenken, denen wir oft ausweichen, solange wir äußerlich aktiv sind. „Erschreckend“, „einsam“, „deprimierend“ sind nur einige der Beschreibungen, auf die ich stoße, wenn ich die Essays meiner Studierenden korrigiere, nachdem ich sie gebeten habe, vierundzwanzig Stunden lang auf elektronischen Medien zu verzichten. Allein die Überschriften ihrer Essays, wie „Mein Tag in der Hölle“ oder „Tod – hole mich jetzt!“, sprechen Bände.

    Da ich diese Übung bereits über einen Zeitraum von zwölf Jahren erteile, habe ich festgestellt, dass es für Studierende zunehmend schwieriger wird, digitalen Verzicht erfolgreich durchzuhalten. Die Verbindung zu ihrer Hauptinformationsquelle zu durchtrennen, verursacht bei vielen nahezu einen emotionalen Schmerz. Doch diejenigen, die dieses anfängliche Verlustgefühl durchstehen, berichten häufig von einem unerwarteten Durchbruch. Manche sagen, sie erlebten plötzlich äußerst klare Bewusstseinsaugenblicke. Andere sprechen von einem fast ekstatischen Kreativitätsgewinn. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Studierende auch den Drang zu beten verspüren.

    reflections in water

    Dennoch: Nur wenige Studierende, wenn überhaupt, fühlen sich gedrängt, den digitalen Verzicht zu einem regelmäßigen Teil ihres Lebens zu machen. Ich vermute, dies hat mit dem dritten und stärksten Grund zu tun, warum wir Stille vermeiden: Stille konfrontiert uns mit der deutlichen Erkenntnis unserer eigenen Zerbrechlichkeit, unserem Versagen und letztendlichem Tod. Sind wir frei von den Sorgen der Arbeitswelt, überfällt uns leicht ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Hilflosigkeit. Wir werden uns der Kürze unseres menschlichen Bewusstseinszustandes gewahr, den wir Leben nennen. Den Älteren mögen sich in der Stille Bilder verlorener Jugendträume aufdrängen. Wir leben, wir sterben, der Kreislauf setzt sich fort. Wer möchte schon mit der Härte dieser Realität konfrontiert werden?

    Und doch ist genau dies die Medizin, die wir brauchen. Stille tut das tiefe Werk, das Reden nicht vermag. Die Disziplin der Stille hilft uns, unsere eigenen Gedanken und Motivationen besser zu verstehen. Wir ertappen uns dabei, wie wir uns unserer Welt und anderen gegenüber kohärenter verhalten. Wir können ein tieferes Verständnis von der Bedeutung unseres eigenen Menschseins gewinnen.  

    All dies sind Gründe, weshalb die Gefährdung der Stille durchaus kein unbedeutendes Thema ist. Doch der Zustand, in dem wir uns heute befinden, hat uns alle nicht plötzlich ereilt. Auch schon vor der industriellen Revolution haben Technologien, wie der Buchdruck, unseren Informationsfluss transformiert und erhöht. Und dies hatte tiefe Auswirkungen auf unser Innenleben. Doch war der Verlust der Stille früher nur eine Sorge unter vielen, so ist er durch die digitale Medienrevolution zur akuten Bedrohung – bzw. für die Mehrheit der Menschen heute – bereits zur bestehenden Tatsache geworden.  

    Die gewaltige Zunahme an Informationen, die unsere Gehirne überflutet, stellt an unsere mentale Verarbeitungskapazität neue Ansprüche. Dies mag wiederum erklären, warum Stress und die damit verbundenen Angststörungen im Anstieg begriffen sind.footnote Ein „Ungleichgewicht von Information und Handlung“ nannte der Pädagoge Neil Postman dieses wachsende Phänomen in einem Buch, das er 1985 schrieb, Jahre bevor das Internet weithin zugänglich wurde.footnote Postman stellte die Hypothese auf, das Verhältnis von erhaltener Information und der Fähigkeit eines Menschen, auf diese Information hin zu handeln, verursache psychologischen Stress.

    Stille tut das tiefe Werk, das Reden nicht vermag.

    Postman wiederum baute auf dem Werk von Jacques Ellul auf, einem französischen Philosophen und Historiker, der zwei Jahrzehnte zuvor bereits die Folgen der Informationsflut für das innere Leben voraussah: „Wie ein Fisch, der sich perfekt an seine Umgebung im Wasser anpasst, so sind wir in Informationen eingehüllt, versunken in eine eindimensionale Welt klischeehafter Parolen, integriert in ein homogenes Ganzes durch die Maschinerie der Konformität.“

    Heutzutage durchdringt diese „Maschinerie der Konformität“ jede Nische unserer Kultur. Nahezu fünf Milliarden Menschen verwenden Handys, footnote und die Digitalisierung beeinflusst praktisch alle Bereiche des menschlichen Lebens: von Medien, Medikamenten und Einzelhandel bis hin zu unseren Beziehungen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist diese Überflutung mit weitgehend unnötigen Informationen natürlich ein Gewinn. Ganze neue Industrien sind entstanden, um die Informationen, die wir konsumieren, zu erfassen, zu bewahren, zu gewinnen und zu verkaufen. Doch insbesondere seitdem die Akzeptanz sozialer Medien weiter gewachsen ist, zeigt unser Gehirn – trotz seiner bemerkenswerten Fähigkeit der Informationsfilterung – Anzeichen von Überlastung.

    Oder schlicht gesagt: Das Problem ist der innere Lärm. Lärm unterscheidet sich vom Reden wie Unkraut von Blumen. Wird er nicht unter Kontrolle gebracht, so kann er eine ganze Landschaft überwuchern. Pausenloser innerer Lärm verdrängt den Raum zur Reflexion, den man braucht, um nachzudenken, zu staunen und zu beten. In seinem 2014 erschienenen Buch The End of Absence beschreibt der Journalist Michael Harris das, was er als „das Ende des leeren Raumes“ bezeichnet. Er spricht über die zunehmende Abwesenheit von Stille und Staunen und fragt sich, ob es für die nächste Generation noch schwieriger sein wird, einen Zugang zum Alleinsein zu finden. „Wird man ‚tiefe‘ Unterhaltungen und einsame Spaziergänge durch die verarmte Erfahrung von Text-Clouds ersetzen?“, so fragt er. „Wird das sanfte Gefühl von Geborgenheit, das wir aus der frühen Kindheit kennen, durch das inzwischen überhand nehmende Gefühl von Ruhelosigkeit verdrängt, das uns ergreift, sobald wir nichts tun?“ footnote

    Digitale Geräte zer­stören unsere Fähig­keit, mit­ein­ander von An­ge­sicht zu An­ge­sicht zu kom­muni­zieren.

    Ist es uns ernst damit, die Elemente zu bewahren, die uns Menschen von Maschinen unterscheiden, so sind dies durchaus dringliche Fragen. Ein regelmäßiges Maß an Stille schenkt uns ein erneuertes inneres Terrain. Es schafft uns die Möglichkeit, den Fokus nicht auf die Zerstreuung unseres Inneren zu richten, sondern auf andere Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen. Sie hilft uns, unsere Worte und unser Handeln besser dafür einzusetzen, bedeutsam zu kommunizieren. Stille ermöglicht Vertrautheit und Intimität.

    Sherry Turkle, Dozentin im Forschungsbereich Technologie und Sozialwissenschaft am MIT  (Massachussets Institut für Technologie) argumentiert: Digitale Medien verbinden uns keineswegs mit anderen, sondern untergraben vielmehr unsere Fähigkeit, mit ihnen von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren. Turkles 2015 erschienenes Buch Reclaiming Conversation [Die Wiedergewinnung des Gesprächs; Anm. d. Übs.] weist auf unsere nachlassende Fähigkeit hin, komplexe Unterhaltungen zu führen. Ihrer Ansicht nach besteht der erste Schritt, die Kunst der Unterhaltung wiederzugewinnen, darin, die Fähigkeit zum Alleinsein wiederzugewinnen, die uns in unserem täglichen Leben zunehmend abhanden gekommen ist: „Ohne die Fähigkeit zum Alleinsein können wir kein stabiles Selbstempfinden aufbauen. Doch Kinder, die digital aufwachsen, müssen immer auf etwas Externes reagieren. Wenn sie Online gehen, dann wandern ihre Gedanken nicht umher; sie werden vielmehr gefangen genommen und gespalten.“ footnote

    Sowohl für das Gespräch als auch für die Erfahrung von Intimität und Vertrautheit ist der Klang der menschlichen Stimme unerlässlich. Schließlich ist ein menschliches Wesen eben nicht ein „Gehirn im Tank“. Wir sind Menschen mit einem Geist und einer Seele, die in einem Körper wohnen, und dieser Körper kann reden: auf einzigartige, hörbare und äußerst bedeutsame Weise. Die Präsenz des Wortes ist von einer Bedeutsamkeit, die über das rein funktionale Bedürfnis, eine Botschaft zu übermitteln, hinausgeht, wie der Linguist Walter J. Ong erkannte:

    Das Wort selbst ist sowohl innerlich als auch äußerlich: Es ist, wie wir gesehen haben, eine teilweise Veräußerlichung eines Inneren, das nach einem anderen Inneren sucht. Das primär physikalische Medium des Wortes – der Klang – ist selbst eine Veräußerlichung eines physikalischen Innenraums, das einen Widerhall in anderen physikalischen Innenräumen erzeugt. footnote  

    Wenn also zwei Menschen sich hinsetzen, um miteinander zu reden, dann entsteht natürlicherweise meist eine Beziehung. Hören wir jedoch auf, unsere Gabe des Redens als primäre Quelle zu nutzen, um voneinander zu erfahren und weichen auf distanziertere Systeme aus, um Realität zu vermitteln, etwa aufs Schreiben, SMS schicken oder Sehen – so bauen wir zwischen unserem externen und internen Erkennen eine weitere Trennschicht auf.

    reflections in water

    Oberflächliche Beziehungen sind Beziehungen, die an der Peripherie des einzelnen Individuums bleiben. Intime Beziehungen werden aus dem Wunsch geboren, die Reichtümer der Seele eines anderen zu heben. Unsere Fähigkeit, eine andere Person zu erkennen, steht in direkter Beziehung zu unserer Fähigkeit, mit ihr auf Hörweite zusammen zu sein und durch das gesprochene Wort zu kommunizieren, statt nur durch den Austausch von Texten auf einer Bildschirmseite. Die Realität dieser notwendigen Innerlichkeit wird uns schmerzhaft bewusst, wenn wir Einsamkeit erleben. Einsamkeit entsteht durch emotionale Distanz zu anderen und ist eine der Hauptursachen, über die Menschen klagen, die mit Depressionen kämpfen. footnote Zerfall von Intimität und emotionale Distanz werden vor dem Scheidungsrichter häufig als wesentliche Faktoren benannt. 

     „Es ist die Stimme des anderen, die Präsenz verrät.“ footnote Zugegeben, die Stimme kann man auch durchs Telefon oder eine Voice-App hören. Dennoch: diese Kommunikationsmittel überziehen die Konversation mit einem nebelhaften Nichtwissen. Das Wort, in der körperlichen Anwesenheit eines anderen gesprochen, schafft eine Möglichkeit, hinter die Substanz einer Botschaft zu schauen und das Gebiet des Geheimnisvollen zu betreten. Ellul erklärt:

    Wir haben es hier mit einem unendlich und erstaunlich reichen Instrument zu tun. Selbst der kleinste Satz setzt eine ganze polyphone Bedeutungsfülle frei. Die Zweideutigkeit der Sprache, sogar ihre Ambivalenz und ihr Widerspruch zwischen dem Moment, in dem sie gesprochen und in dem sie empfangen wird, ruft in uns äußerst intensive Aktivität hervor. Ohne derartige Aktivitäten wären wir wie Ameisen oder Bienen  – und unsere Dramen und Tragödien rasch ausgetrocknet und leer. Zwischen dem Augenblick des Sprechens und dem Augenblick des Empfangens werden Symbol, Metapher und Analogie geboren. footnote

    Vor den elektronischen Medien, der Drucktechnik oder dem Schreiben gab es schon das Reden. Vom Schrei eines Neugeborenen bis zu den letzten Worten eines Sterbenden existiert eine Verbindung zwischen dem Sein und dem Reden. Das Reden ist das erste und vornehmliche Medium, durch das wir unsere Gedanken und Wahrnehmungen vermitteln. Der vokale Mechanismus erzeugt ein Echo unseres Selbst, das versucht, mit einer anderen Person Kontakt aufzunehmen. Dieser Widerhalleffekt ist das, was reiche Beziehungen ermöglicht.

    Wir haben es mit einem unend­lich über­rasch­end reichen Instru­ment zu tun.

    Die Disziplin des gelingenden Wortes hängt wiederum von der Stille ab. Fehlt sie in unserem täglichen Leben, so nimmt die Kraft unserer Worte ab. Was bleibt, sind Sprachbrocken – Akronyme, Emojis und minimalisierte Bedeutungen. Wen überrascht es dann, dass das Informationszeitalter neues Interesse an der Kunst der Achtsamkeit wachgerufen hat?  Dutzende neuerer Artikel diskutieren beispielsweise die wissenschaftliche Begründung für die Bedeutsamkeit der Meditation. Die Praxis der Stille, um geistliche Kraft und mentale Klarheit zu gewinnen, ist wohl kaum eine Neuentdeckung, sondern in Jahrtausenden der Geschichte verankert.

    Stille ist ein notwendiger Gegenpol zur unermüdlichen Multitasking-Beschäftigung unseres Geistes. Sie sollte zum beständigen Rhythmus unserer beschäftigten menschlichen Gehirne eine Art rhythmischen Kontrapunkt schaffen. So wie wir weise darin handeln, die verwundbaren Wälder der Erde vor Überentwicklung zu schützen, müssen wir auch weise darin sein, unser inneres Heiligtum zu schützen. Sprache, Beziehungen, unser Seelenleben: Sie beginnen mit der Stille und werden von ihr getragen.


    Fotos von Torkel Pettersson und Rupert Kittinger-Sereinig/ Pixabay. Deutsche Übers.: B. Currlin

    Man sitting on a rock looking at reflection of autumn trees in lake

    Fußnoten

    1. Neil Postman, Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Business (Viking Penguin, 1985).
    2. Ebda.
    3. Simon Kemp, “We are Social,” Global Overview, Special Reports, January 24, 2017. wearesocial.com
    4. Michael Harris, The End of Absence (Penguin, 2015), 39.
    5. Sherry Turkle, Reclaiming Conversation (Penguin, 2015), 61.
    6. Walter J. Ong, The Presence of the Word (University of Minnesota Press, 1967).
    7. Steve Horsmon, “A Research-Based Approach to Strengthening Relationships,” March 6, 2017, The Gottman Institute. gottman.com
    8. Frank E. X. Dance, “Digitality’s Debt to Speech,” in Explorations in Media Ecology, vol. 7, no. 1, ed. Corey Anton (2002), 38.
    9. Jacques Ellul, The Humiliation of the Word, trans. J. M. Hanks (Eerdmans, 1985), 19.
    Von StephanieBennett Dr. Stephanie Bennett

    Dr. Bennett ist Fellow für studentisches Engagement und Professorin für Kommunikation und Medienökologie an der Palm Beach Atlantic Universität. Sie ist Autorin verschiedener Bücher, einschließlich von The Poet’s Treasure (Wild Flower Press, 2016), einem Roman über die Zukunft der Gesellschaft.

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