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    Zwei Eremiten in einer Felshöhle. Deutscher Künstler, 19. Jh.

    Die drei Greise

    von Leo Tolstoi

    Dienstag, 3. April 2018

    Verfügbare Sprachen: español

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    Wenn ihr betet, dann leiert nicht Gebetsworte herunter wie die Heiden. Sie meinen, sie könnten bei Gott etwas erreichen, wenn sie viele Worte machen. Ihr sollt es anders halten. Euer Vater weiß, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet.  (Matthäus 6; 7+8)

    Einst fuhr ein Bischof aus Archangelsk zu Schiff nach dem Kloster Solowezki. Auf demselben Schiff fuhren Wallfahrer zu den frommen Mönchen. Der Wind war günstig, das Wetter klar, das Meer ruhig. Einige der Pilger lagen hingestreckt, die andern sahen in Gruppen beisammen und plauderten miteinander, wieder andere aßen. Auch der Bischof trat auf das Verdeck hinaus und ging auf und nieder. Er kam aufs Vorderdeck und sah eine Menge Leute dastehen; ein Bäuerlein zeigte mit der Hand aufs Meer hinaus und erzählte etwas, die andern hörten zu. Der Bischof blieb stehen und blickte dorthin, wohin der Bauer zeigte, sah aber nichts, außer dem in der Sonne glänzenden Meer. Da trat der Bischof näher heran und hörte zu. Als das Bäuerlein ihn erblickte, nahm es die Mütze ab und verstummte; auch die andern sahen den Bischof, zogen ebenfalls ihre Mützen und grüßten ihn ehrerbietig.

    »Lasst euch nicht stören, Brüder,« sprach der Bischof, »ich bin auch herangekommen, um zu hören, was du erzählst, guter Mann.«

    »Ach, von den Greisen hat uns der Fischer erzählt,« antwortete ein Kaufmann, der kühner war als die andern.

    »Was denn von den Greisen?« fragte der Bischof, trat an den Rand des Schiffes und setzte sich auf eine Kiste; »erzähl's auch mir, ich höre zu. Was zeigtest du denn?«

    »Dort schimmert eine kleine Insel,« sagte das Bäuerlein und zeigte vorwärts nach rechts hin. »Auf dieser kleinen Insel leben die Greise nur ihrem Seelenheil.«

    »Wo ist das Inselchen?« fragte der Bischof.

    »Belieben in der Richtung meiner Hand zu sehen, dort steht ein Wölkchen, und unten, links von ihm, schimmert ein Streifen.«

    Der Bischof blickt scharf hin, das Wasser glitzert in der Sonne und sein ungewohntes Auge sieht nichts.

    »Ich sehe nichts,« sagte er, »und was für Greise leben denn auf der Insel?«

    »Männer Gottes,« antwortete der Bauer, »ich hatte schon lange von ihnen gehört, war aber nicht dazugekommen, sie zu sehen. Im vorigen Sommer aber hab' ich sie mit eigenen Augen gesehen.«

    Und er begann wieder zu erzählen, wie er auf Fischfang ausgefahren war und wie er zu dieser Insel verschlagen wurde, ohne zu wissen, wo er sei. Am Morgen war er dann umhergegangen und an eine kleine Erdhütte  gekommen. Und bei der Erdhütte hatte er den einen Greis gesehen, die zwei andern waren aus der Hütte dazugekommen. Sie hatten ihm Speise und Trank gegeben, seine Kleider getrocknet und ihm geholfen, sein Boot zurechtzumachen.

    »Wie sehen sie denn aus?« fragte der Bischof.

    »Der eine ist klein, gebückt, sehr alt, in ein altes Priestergewand gehüllt, er muss schon über hundert Jahre alt sein; das weiße Haar seines Bartes schimmert schon grünlich. Er lächelt immer und ist licht wie ein Engel des Himmels. Der zweite ist größer von Wuchs, auch alt, trägt ein zerrissenes Gewand, sein breiter Bart ist grau mit gelben Streifen; ein kräftiger Mann: er hat mein Boot umgedreht, als wär's ein Eimer, ich kam gar nicht dazu, ihm zu helfen; auch er ist heiter. Der dritte ist hochgewachsen, sein langer Bart reicht bis zu den Knien und ist weiß wie Mondlicht. Sein Antlitz aber ist finster, die Brauen hängen tief über die Augen herab; er geht nackt umher, nur mit einer Matte umgürtet.«

    »Was haben sie denn mit dir gesprochen?« fragte der Bischof.

    »Sie machten das meiste schweigend und sprachen auch untereinander wenig; wenn der eine nur aufblickt, so versteht ihn der andere schon. Ich fragte den Hochgewachsenen, ob sie schon lange dort leben, da machte er ein finsteres Gesicht, sprach etwas und schien sich zu ärgern. Aber der Kleine, Alte, nahm ihn gleich bei der Hand und lächelte ihn an und da verstummte der Große. Der Alte hatte nur gesagt: erbarm dich unser, und hatte gelächelt.«

    Während der Bauer erzählte, war das Schiff noch näher an die Inseln herangefahren.

    »Jetzt kann man's ganz deutlich sehen,« sagte der Kaufmann,  »belieben hinzuschauen, Euer Gnaden,« und er deutete auf die Inseln.

    Der Bischof blickte hin und entdeckte nun wirklich einen schwarzen Streifen – das Inselchen. Der Bischof spähte aufmerksam hinüber, ging vom Vorderdeck fort zum Steuer, trat an den Steuermann heran und fragte:

    »Was ist das für ein Inselchen, das man dort sieht?«

    »Ach, so ein namenloses, es sind viele hier.«

    »Sag', ist es wahr, dass dort Greise ihrem Seelenheil leben, wie man erzählt?«

    »Man sagt so. Euer Gnaden, aber ich weiß nicht, ob es wahr ist. Man behauptet, die Fischer haben sie gesehen; aber es wird auch viel Unsinn geschwätzt.«

    »Ich möchte an der Insel landen und die Greise sehen,« sagte der Bischof, »wie kann man das machen?«

    »Das Schiff kann nicht heran,« erwiderte der Steuermann, »mit einem Boot geht's, doch da muß man den Kapitän fragen.«

    Man rief den Kapitän und der Bischof sagte ihm:

    »Ich möchte diese Greise gern sehen, kann man mich nicht hinführen?«

    Der Kapitän wollte es ihm ausreden.

    »Können könnte man schon, aber wir verlieren viel Zeit damit, und ich wage es. Euer Gnaden darauf aufmerksam zu machen, dass es gar nicht lohnt, sie anzuschauen. Ich habe von den Leuten gehört, dass dort ganz dumme Greise leben, die nichts verstehen und nicht einmal sprechen können, wie die Fische im Meer.«

    »Ich wünsche hinzufahren,« sagte der Bischof, »ich bezahle euch für die Mühe; bringt mich nur hin.«

    Da war nichts zu machen, die Schiffsleute richteten sich danach und setzten die Segel um. Der Steuermann wandte  das Schiff und sie fuhren auf die Insel zu. Man brachte dem Bischof einen Stuhl auf das Vorderdeck; er setzte sich und spähte hinüber. Und alles Volk versammelte sich auch auf dem Vorderdeck, alle schauten nach der kleinen Insel aus. Wer scharfe Augen hatte, konnte schon die Steine auf der Insel erkennen, und einige Leute zeigten nach der Erdhütte; ja einer konnte sogar schon die drei Greise sehen. Der Kapitän brachte ein Fernglas herbei, blickte hindurch und reichte es dem Bischof.

    »Wirklich,« sprach er, »dort am Ufer, rechts von dem großen Stein, stehen drei Menschen.«

    Auch der Bischof blickte durch das Fernrohr, stellte es so, wie er es brauchte: wirklich, drei Menschen stehen da. Ein großer, ein etwas kleinerer und ein dritter, ganz kleiner. Sie stehen am Ufer und halten sich bei den Händen.

    Der Kapitän trat an den Bischof heran und meldete:

    »Hier müssen wir halten, Euer Gnaden. Wenn's also beliebt, so wollen Sie gütigst von hier mit dem Boot hinüberfahren. Wir lassen das Schiff hier vor Anker liegen.«

    Sofort wurde das Tau hinuntergelassen, der Anker ausgeworfen und die Segel eingezogen. Es gab einen Ruck und das Fahrzeug schwankte. Man ließ ein Boot hinab, die Ruderer sprangen herunter, der Bischof stieg an der Leiter ins Boot und setzte sich auf das Bänkchen. Die Ruderer tauchten die Ruder ins Wasser und fuhren auf die Insel zu. Als sie auf Steinwurfweite herangekommen waren, sehen sie: die drei Greise stehen da, der große nackt, die Matte um die Lenden gegürtet, der kleinere im zerrissenen Gewand und der ganz alte, gebückte, im alten Priesterkleid. Sie stehen da und halten sich bei den Händen.

    Die Ruderer kamen ans Ufer und landeten. Der Bischof stieg aus, die Greise verneigten sich vor ihm, er segnete  sie und sie verneigten sich noch tiefer. Dann sprach er zu ihnen:

    »Ich habe gehört, dass ihr, Gottesmänner, hier eurem Seelenheil lebt und für die Menschen zu Christus betet. Ich aber, ein unwürdiger Knecht Christi, bin hier durch Gottes Gnade berufen, seine Herde zu weiden, daher wollte ich auch euch sehen, Knechte Gottes, und euch, wenn ich kann, Belehrung bringen.«

    Die Greise schweigen, lächeln und schauen einander freundlich an.

    »Sagt mir, wie ihr für euer Seelenheil sorgt und wie ihr Gott dient,« sagte der Bischof.

    Der mittlere Greis seufzte und blickte den ältesten, den verwitterten, an. Der hochgewachsene Greis blickte finster drein und schaute ebenfalls den ältesten, den verwitterten, an. Und der älteste, der verwitterte Greis lächelte und sprach:

    »Wir verstehen nicht, Gott zu dienen, Knecht Gottes, nur uns selber dienen wir, nur uns selber nähren wir.«

    »Wie aber betet ihr zu Gott?« fragte der Bischof.

    drei seid ihr,
    drei sind wir,
    erbarme dich unser

    Und der verwitterte Greis antwortete: »Wir beten so: drei seid ihr, drei sind wir, erbarme dich unser!«

    Und als der verwitterte Greis das sagte, blickten alle drei Greise gen Himmel und alle drei sprachen:

    »Drei seid ihr, drei sind wir, erbarme dich unser!«

    Der Bischof lächelte und sagte:

    »Ihr habt von der Heiligen Dreifaltigkeit etwas gehört, aber ihr betet nicht recht. Ich habe euch liebgewonnen, ihr Knechte Gottes; ich sehe, ihr wollt Gottes Willen tun, wisst aber nicht, wie ihr ihm dienen sollt. Nicht so betet man; hört mir zu, ich will euch lehren. Nicht aus meinem eigenen Wissen will ich euch lehren, sondern aus der Heiligen  Schrift, wie Gott allen Menschen befohlen hat, zu ihm zu beten.«

    Und der Bischof begann den Greisen zu erklären, wie Gott sich den Menschen offenbart habe. Er erzählte ihnen von Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist und sprach:

    »Gott der Sohn ist aus die Erde herabgekommen, um die Menschen zu erlösen, und hat alle so beten gelehrt. Höret mich an und sprechet mir nach.«

    Und der Bischof begann: Vater unser, und der eine Greis wiederholte: Vater unser; dann wiederholte der zweite: Vater unser, dann der dritte: Vater unser. – Der du bist im Himmel. Die Greise wiederholten: der du bist im Himmel. Aber der mittlere Greis verdrehte die Worte und sagte sie nicht richtig. Auch der hochgewachsene Greis brachte es nicht richtig heraus, sein Schnurrbart hatte den Mund überwachsen, er konnte die Worte nicht rein aussprechen, und auch der verwitterte, zahnlose Greis murmelte undeutlich.

    Der Bischof wiederholte die Worte und auch die Greise Wiederholten sie noch einmal. Und der Bischof setzte sich auf einen Stein, um ihn herum standen die Greise, blickten auf feinen Mund und wiederholten alles, was er zu ihnen sprach. Und den ganzen Tag bis zum Abend mühte sich der Bischof mit ihnen ab: zehn-, zwanzig-, ja hundertmal wiederholte er ein Wort und die Greise wiederholten es nach ihm. Sie versprachen sich, er verbesserte sie und ließ sie wieder von Anfang an wiederholen.

    Und der Bischof verließ die Greise nicht eher, als bis er sie das ganze Gebet des Herrn gelehrt hatte. Erst beteten sie's ihm nach, dann beteten sie es selbst. Schneller als die andern hatte der mittlere Greis begriffen und allein das  ganze Gebet hergesagt, und der Bischof ließ es ihn noch einmal und noch einmal sagen und immer von neuem wiederholen, und auch die andern sagten dann das ganze Gebet her.

    Es begann schon zu dämmern und der Mond stieg aus dem Meer auf, als der Bischof sich bereit machte, zum Schiff zurückzufahren. Er verabschiedete sich von den Greisen und sie verneigten sich vor ihm bis zur Erde. Er umarmte einen jeden von ihnen, befahl ihnen, fortan so zu beten, wie er sie gelehrt hatte, stieg ins Boot und fuhr hinüber zum Schiff.

    Während der Bischof zum Schiff hinüberfuhr, hörte er immer noch, wie die Greise, dreistimmig, laut das Gebet des Herrn hersagten. Dann näherte er sich dem Schiff und hörte nicht mehr die Stimmen der Greise, aber im Mondlicht sah er: die drei Greise standen am Ufer auf demselben Platz. Der eine, der kleinste von allen, in der Mitte, der hochgewachsene rechts, der mittlere links. Der Bischof kam ans Schiff und stieg auf das Verdeck. Der Anker wurde gelichtet, das Segel gehisst, der Wind blies ins Segel, das Schiff bewegte sich und fuhr weiter. Der Bischof ging zum Steuerruder, setzte sich dort nieder und blickte unverwandt nach der kleinen Insel hinüber. Anfangs waren die Greise noch sichtbar, dann entschwanden sie dem Blick und man sah nur noch das Inselchen.  Allmählich verschwand auch das, und nur das Meer glitzerte im Mondlicht.

    Die Pilger legten sich zur Ruhe, und auf dem Verdeck wurde alles still. Der Bischof aber konnte keinen Schlaf finden, er saß allein am Steuer, blickte übers Meer nach der Richtung, wo das Inselchen verschwunden war, und dachte an die guten Greise. Er dachte daran, wie sie sich gefreut hatten, als sie das Gebet erlernt hatten, und er dankte Gott  dafür, dass er ihn hergeführt hatte, den gottesfürchtigen Greisen zu helfen und sie Gottes Worte zu lehren.

    So sitzt der Bischof da, in Gedanken versunken, und schaut übers Meer nach der Richtung, wo die kleine Insel verschwunden ist. Vor seinen Augen flimmert's, bald hier, bald da spielt ein Glanz auf den Wellen; plötzlich sieht er, es leuchtet und glänzt etwas im Strahl des Mondlichts: ist's ein Vogel, eine Möwe, oder der Segel eines Bootes? Der Bischof sieht scharf hin. »Ein Boot,« denkt er, »segelt hinter uns her. Es wird uns gleich erreicht haben; eben noch war es weit, weit, und jetzt erscheint es schon ganz nah. Es ist aber doch kein Boot, das steht nicht wie ein Segel aus, und doch läuft etwas hinter uns her und will uns einholen.«

    Und der Bischof kann nicht erkennen, was es ist: es ist kein Boot, es ist kein Vogel, es ist kein Fisch. Am ähnlichsten ist es einem Menschen, nur ist es sehr groß, und ein Mensch kann doch auch nicht mitten durchs Meer schreiten. Der Bischof stand auf, trat an den Steuermann heran und sagte: »Sieh einmal: was ist das? Was ist das, Bruder?« fragt der Bischof, im selben Augenblick aber sieht er schon: es sind die Greise, die übers Meer heraneilen. Ihre weißen Bärte schimmern und strahlen und sie nähern sich dem Schiffe so schnell, als stehe es still.

    Der Steuermann sah sich um, erschrak, ließ das Steuerruder fallen und schrie mit lauter Stimme:

    »Herrgott, die Greise laufen uns nach übers Meer, als wäre es trockenes Land!«

    Die Leute hörten es, erhoben sich und stürzten zum Steuerruder. Sie alle sehen: die Greise kommen heran, sich an den Händen haltend. Die beiden an der Seite Schreitenden winken mit den Händen, dass man halten solle. Alle  drei kommen sie über das Wasser daher wie über trockenes Land und ohne die Füße zu bewegen. Noch hatte das Schiff nicht gehalten, als die Greise es schon einholten. Sie traten an den Rand des Fahrzeugs, erhoben die Köpfe und sprachen wie aus einem Munde:

    »Wir haben vergessen, Knecht Gottes, wir haben vergessen, was du uns gelehrt hast. Solange wir es hersagten, wussten wir es noch, als wir es aber eine Stunde nicht wiederholten, ist uns ein Wort entfallen. Wir haben es vergessen und dann das Ganze aus dem Gedächtnis verloren. Gar nichts wissen wir mehr; lehre uns noch einmal.«

    Der Bischof bekreuzigte sich, neigte sich zu den Greisen hinab und sprach:

    »Auch euer Gebet erreicht Gott den Herrn, ihr heiligen Greise. Nicht ich habe euch zu lehren; betet für uns Sünder.«

    Und der Bischof verneigte sich tief vor den Alten: die Greise wandten sich um und schritten zurück über das Meer. Bis zum Morgen aber sah man ein Leuchten von der Seite, nach der sie gegangen waren.

    Zwei Eremiten in einer Felshöhle. Deutscher Künstler, 19. Jh.
    Eremiten in einer Felshöhle, Unbekannter Künstler, 19. Jh Siehe ganzes Bild
    Von LeoTolstoy Leo Tolstoi

    Leo Tolstoi (1828-1910) hat als großer russischer Schriftsteller Weltruhm erlangt. Bekannt wurde er durch seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina.

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