Es gibt Texte, die so verblüffend sind, dass sie immer wieder zitiert werden. Zu diesen Texten gehört der nun schon über 100 Jahre alte Satz des französischen Bibelwissenschaftlers Alfred Loisy: „Jesus verkündete das Reich Gottes – und was kam, war die Kirche“1. Ich gehe jetzt nicht der Frage nach, wie Loisy selbst diesen Satz verstanden hat2. Ich frage vielmehr, wie der Satz von denen verstanden wird, die ihn genüsslich zitieren. Meistens verstehen sie ihn als bittere Ironie.

Da sei auf der einen Seite das Reich Gottes, wie Jesus es verkündet habe: die große, umfassende, unfassliche Verwandlung der Welt unter die Herrschaft Gottes – und dann nach Ostern die Kirche: eine Größe mit all den Grenzen, die zu einem gesellschaftlich verfassten Gebilde gehören. Also: ein Abgrund zwischen der Verkündigung Jesu und der Realität nach Ostern! Einerseits die Herrlichkeit des Reiches Gottes – andererseits die bittere Dürftigkeit der real existierenden Kirche.

Ich sage sofort, was ich von einer solchen Gegenüberstellung Reich Gottes / Kirche halte: Nichts, gar nichts! Denn sie reißt eine Kluft zwischen dem Wollen Jesu und der Wirklichkeit der Kirche auf, die weder Jesus noch der Kirche gerecht wird. Warum?

Zunächst einmal deshalb, weil auch Jesus die kleinen, völlig unscheinbaren Anfänge des Reiches Gottes geschildert hat. Ich erinnere an die Metaphern Senfkorn, Sauerteig, gefährdete Saat und im Stillen wachsende Saat3.

Zweitens, weil das Reich Gottes, das Jesus verkündete, keine Realität jenseits der Gesellschaft ist. Dazu hat man das Reich Gottes zwar immer wieder machen wollen: Man hat es in die ferne Zukunft verlegt oder in die absolute Transzendenz oder in die Tiefe der menschlichen Seele. In Wirklichkeit aber meint das Reich Gottes bei Jesus konkrete gesellschaftliche Realität. Die Basileia Gottes hat ihren Ausgangspunkt in einem realen Volk. Die Weltverwandlung durch die Gottesherrschaft muss in Israel beginnen.

Reich Gottes und Volk Gottes sind zwar nicht dasselbe. Aber sie stehen in einer festen Korrelation. Jesus lässt in der 2. Vaterunserbitte um das Kommen des Reiches beten. Aber unmittelbar davor, in der 1. Bitte, lässt er beten um die Sammlung und Heiligung des Gottesvolkes. Genau das ist nämlich mit der Bitte „geheiligt werde dein Name“ gemeint4. Im Hintergrund steht dabei die Theologie des Ezechiel-Buches5.

Jesus proklamiert das Reich Gottes, aber er proklamiert es nicht nur, sondern er beginnt mitten in Israel mit der realen Weltveränderung, die mit der Gottesherrschaft gemeint ist. Die Proklamation des Reiches Gottes ist verknüpft mit der Sammlung Israels6.

Und da die Kirche nichts anderes ist als das auf Jesus hörende, ihm nachfolgende, durch ihn geheiligte Israel, sind Reich Gottes und Kirche aufs Engste miteinander verknüpft. Dass Jesus das Reich verkündete und dann nach Ostern die Kirche kam, war kein tragischer Absturz, war keine bittere Ironie der Geschichte, war keine Perversion des Willens Jesu, sondern hing konsequent mit der gesellschaftlichen Dimension der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu zusammen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden der Frage nachgehen, ob die Frühe Kirche das, was Jesus wollte, begriffen und gelebt hat. Allerdings: Ein so weit gespanntes Thema erforderte eigentlich bedeutend mehr Zeit. Ich versuche deshalb das, was anhand vieler Phänomene zu untersuchen wäre, mithilfe von drei Stichproben zu erkunden: 1. Gewaltverzicht, 2. Nächstenliebe und 3. Naherwartung. Weshalb ich gerade diese drei Stichproben gewählt habe, werde ich jeweils begründen.

Fußnoten

  1. A. Loisy, L’Évangile et l’Église, Bellevue 1903, 155.
  2. Vgl. dazu ausführlich: G. Heinz, Das Problem der Kirchenentstehung in der deutschen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts (tts 4), Mainz (Grünewald) 1974, 122-139.
  3. Senfkorn: Mk 4,30-32; Sauerteig: Mt 13,33; gefährdete Saat: Mk 4,1-9; im Stillen wachsende Saat: Mk 4,26-29.
  4. Vgl. G. Lohfink, Das Vaterunser neu ausgelegt, Stuttgart (Verlag Katholisches Bibelwerk) 22013, 51-59.
  5. Vgl. vor allem Ez 20,22.41.44; 36,22-28.
  6. Zu der jesuanischen Korrelation Reichgottesverkündigung / Sammlung des Gottesvolkes vgl. ausführlich G. Lohfink, Jesus von Nazaret. Was er wollte, wer er war, Freiburg i. Br. (Herder) 42014, 66-91.
  7. Eine knappe und äußerst präzise Skizze der ganzen Frage bei Ch. W. Troll, Koran, Gewalt, Theologie: Christ in der Gegenwart 2014, Nr. 43, 485-486.
  8. Ausführlicher: G. Lohfink / L. Weimer, Maria – nicht ohne Israel. Eine neue Sicht der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis, Freiburg i. Br. (Herder) 22012, 223-229.
  9. Dazu im Einzelnen: G. Lohfink, Wem gilt die Bergpredigt? Beiträge zu einer christlichen Ethik, Freiburg i. Br. (Herder) 1988, 42-45.
  10. Vgl. ausführlicher zu diesem 3. Punkt W. Wink, Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Hrsg. von Thomas Nauerth und Georg Steins, Regensburg (Pustet) 2014.
  11. Vgl. zu diesem Thema jetzt die grundlegende Monographie von M. P. Maier, Völkerwallfahrt im Jesaja-Buch (BZAW 474) , Berlin (Walter de Gruyter) 2015.
  12. Zum Folgenden ausführlicher: G. Lohfink, Wem gilt die Bergpredigt (s. o. Anm. 49) 161-192.
  13. Vgl. dazu mit vielen Quellenbelegen: G. Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Kirche im Kontrast (aktualisierte Neuausgabe), Stuttgart (Verlag Katholisches Bibelwerk) 2015, Teil IV.
  14. So zum Beispiel Tacitus, Annalen XV 44,2-5.
  15. Athenagoras, Presbeia 11; Übersetzung: A. Eberhard.
  16. Ein Auswahl wichtiger Literatur zu diesem Thema: A. v. Harnack, Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten drei Jahrhunderten, Darmstadt 1963 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft). Nachdruck der Ausgabe Tübingen (Mohr) 1905; H. v. Campenhausen, Der Kriegsdienst der Christen in der Kirche des Altertums: Universitas 12 (1957) 1147-1156; H. Karpp, Die Stellung der Alten Kirche zu Kriegsdienst und Krieg: Evangelische Theologie 17 (1957) 496-515. Vor allem aber: H. Ch. Brennecke, ,An fidelis ad militiam converti possit?‘ [Tertullian, de idolatria 19,1] Frühchristliches Bekenntnis und Militärdienst im Widerspruch?, in: D. Wyrwa (Hrsg.), Die Weltlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche (FS Ulrich Wickert) (BZNW 85), Berlin / New York (De Gruyter) 1997, 45-100.
  17. Vgl. nur Tertullian, De corona 1 (solus fortis inter tot fratres commilitones); 42-43; Apologeticum 5,6; 37,4; 42,3; Eusebius, Kirchengeschichte VI 41, 22-23; VII 11,20; VII 15-16; VIII 1,7.
  18. H. v. Campenhausen, Kriegsdienst (s. o. Anm. 14) 1148: „Kein einziger Kirchenvater hat daran gezweifelt, dass in der Welt, so wie sie ist, Kriege geführt werden müssen, und sie finden demgemäß auch keine Veranlassung, den Soldatenstand besonders zu verurteilen.“
  19. Wichtig ist neben Origenes vor allem Tertullian, De corona und De idololatria 19; vgl. auch Laktanz, Institutiones divinae VI 20,15-17. Die Diskussion, ob man als Christ Soldat sein darf, beginnt also erst im 3. Jahrhundert.
  20. Vgl.Origenes, Contra Celsum VIII 68.73.75.
  21. Hingegen übergehen die Canones von Elvira die Frage des Militärdienstes von Christen völlig, obwohl sie sich ausführlich mit Fragen des christlichen Lebens inmitten der heidnischen Gesellschaft befassen. Siehe H. Ch. Brennecke, Frühchristliches Bekenntnis (s. o. Anm. 55) 93.
  22. Traditio Apostolica des Hippolyt, Kanon 16. Für den lateinischen Originaltext siehe B. Botte, La Tradition Apostolique de Saint Hippolyte. Essai de Reconstitution (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 39), Münster (Aschendorff) 31966, 36.
  23. Im Imperium Romanum waren Zivilgewalt und Militärgewalt nicht getrennt. Militia kann beides bedeuten. Miles meint normalerweise den Soldaten, kann aber auch einen kaiserlichen Beamten bezeichnen, der Waffen trägt.
  24. Im antiken Judentum gibt es keine Texte, die wie Jesus Gottes- und Nächstenliebe nebeneinandergestellt, miteinander verbunden und zur Mitte der Tora gemacht hätten. Am nächsten kommen dem noch Texte aus den „Testamenten der zwölf Patriarchen“, wobei allerdings nach wie vor umstritten ist, ob es sich hier nicht um eine judenchristliche Schrift oder um eine jüdische Grundschrift mit christlichen Interpolationen handelt. – Vgl. zu dem Nebeneinander von Gottes- und Nächstenliebe im antiken Judentum die breit angelegte Untersuchung von A. Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum. Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe (WUNT 15), Tübingen (Mohr) 1974, bes. 230-244. Nissen betont: „Eine Verknüpfung von Dt 6,5 und Lev 19,18 ist übrigens in der gesamten antik-jüdischen Literatur zumindest bis ins Mittelalter nirgendwo belegt!“ (241 Anm. 642)
  25. Vgl. 1 Thess 5,15; Gal 6,9-10; ferner 1 Petr 2,17.
  26. Justin, 1. Apologie 67; Übersetzung: G. Rauschen.
  27. Eusebius, Kirchengeschichte IV 23,10; Übersetzung: Ph. Haeuser / H. A. Gärtner.
  28. Es handelt sich um Christen, die zur Schwerstarbeit in die Bergwerke, zum Beispiel in die Eisenbergwerke Sardiniens, deportiert worden waren. Sieh dazu A. Hamman, Die ersten Christen, Stuttgart (Reclam) 1985, 155-156.
  29. Eusebius, Kirchengeschichte VII 22, 7-10; Übersetzung: P. Haeuser / H. A. Gärtner.
  30. Julian, Epistola Nr. 39 Weis; Nr. 49 Hertlein; Nr. 22 Wright; Nr. 84 a Bidez-Cumont. Für den, der die Briefe des Kaisers Julian lesen will, empfiehlt sich die schöne Ausgabe von B. K. Weis, Julian. Briefe. Griechisch und Deutsch, München (Heimeran) 1973.
  31. Julian, ep. 48, 305 C; Übersetzung: B. K. Weis.
  32. Vgl. vor allem Lk 11,20; 17,21.
  33. Vgl. Apg 2,14-21.
  34. Vgl. Mt 12,28; Röm 8,18-30; 2 Kor 1,22; 5,5; Hebr 6,4-5.
  35. Vgl. Röm 8,9-11.
  36. Vgl. 1 Kor 16,22; Offb 22,20: Didache 10,6.
  37. Ad Donatum 4; Übersetzung: J. Baer.