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    Menschen der Hoffnung

    von Dieter Ising

    Montag, 28. Januar 2013
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    Menschen der Hoffnung – das sind Johann Christoph Blumhardt und sein Sohn Christoph Friedrich Blumhardt gewesen. Man spricht von ihnen als „Blumhardt Vater und Sohn“ oder von „den Blumhardts“. Dies soll andeuten, dass ihre Hoffnung ein und denselben Grund hat, wenn auch die Wege von Vater und Sohn sich in manchem unterschieden.

    Hoffnungen, die ein Leben verändern, entzünden sich in Krisensituationen. So geht es auch Johann Christoph Blumhardt, der 1842 als Pfarrer in Möttlingen mit den Ereignissen um Gottliebin Dittus konfrontiert wird. In ihrem Haus wird sie durch Polterspuk beunruhigt; sie hat Geistererscheinungen, leidet an Ohnmachtsanfällen, Fieber und Krämpfen. Die Ärzte sind ratlos, Blumhardt ebenso. Aber man drängt ihn, seelsorgerlich tätig zu werden, ist Gottliebin doch ein Mitglied seiner Gemeinde. Nach einiger Zeit deutet er das Geschehen als dämonische Besessenheit, lässt sich aber nicht in die Rolle des Exorzisten drängen. Er betet und steht zu der Kranken, auch als Gottliebin mit fremder Stimme redet und Selbstmordversuche unternimmt. An Weihnachten 1843 enden die rätselhaften Vorkommnisse mit dem Schrei: „Jesus ist Sieger!“ Gottliebin wird gesund, kann ein normales Leben führen und wird Kindergärtnerin in Möttlingen.

    1852 folgen sie und ihre Geschwister der Familie Blumhardt nach Bad Boll. Dort leitet sie die Hauswirtschaft des Kurhauses zusammen mit Blumhardts Frau Doris. Das „Jesus ist Sieger!“ wird zum Motto für Blumhardts Leben und das seiner Gemeinde, in Möttlingen wie in Bad Boll. Blumhardt dichtet:

    Jesus ist der Siegesheld,
    der all’ seine Feind besieget.
    Jesus ist’s, dem alle Welt
    bald zu seinen Füßen lieget.
    Jesus ist’s, der kommt mit Pracht
    und zum Licht führt aus der Nacht!

     „Alle Welt“ – wie schlägt Blumhardt diesen Bogen, angesichts einer Heilung in dem kleinen Nest Möttlingen? Nach Gottliebins Heilung rumort es im Dorf; eine regelrechte Erweckungsbewegung entsteht. Aus freien Stücken kommen die Leute zu ihm ins Amtszimmer und beichten. Ein schmerzlicher Prozess der Selbsterkenntnis und Buße findet statt; der Ton in Möttlingen verändert sich. Erleichterung greift um sich; die Menschen sind fröhlicher. Von Anfang an achtet Blumhardt darauf, alles in nüchternen Bahnen zu halten, ohne schwärmerische Auswüchse. Ein öffentliches Bußgeheul findet nicht statt. Die Menschen ducken sich nicht in Erwartung eines göttlichen Zorns, sondern richten sich auf und ordnen ihr Leben neu. So etwas ist ansteckend und zieht Kreise. An den Sonntagen kommen bis zu 2.000, ja 5.000 Auswärtige, um Blumhardts Predigten zu hören. Neugierig kommen sie, und ergriffen gehen sie heim.

    Dabei kommt es vor, dass Menschen unter seinem Gebet und beim Hören seiner Predigten von seelischen und auch körperlichen Krankheiten geheilt werden – ein von Blumhardt ursprünglich nicht beabsichtigtes und erstaunt zur Kenntnis genommenes Phänomen. So muss etwa ein Tübinger Student das Studium aufgeben, weil seine Augen das Licht nicht mehr ertragen. Nach dem Besuch der Möttlinger Samstagabendstunde kann er wieder ungehindert lesen und schreiben. – Eine Frau, von den Ärzten der Tübinger Universitätsklinik aufgegeben, wird in Möttlingen von einem hartnäckigen Hautausschlag geheilt. Ein anwesender Mediziner bestätigt dies in einem Gutachten. – Eine gelähmte Besucherin hört Blumhardts Predigt über den Zöllner Zachäus, dem seine Betrügereien vergeben werden. Sie bittet den Pfarrer um ein Gespräch und schüttet ihr Herz aus, aber nicht wegen ihrer Krankheit. Am Nachmittag kommt ihre Betreuerin in heller Aufregung ins Pfarrhaus gelaufen: „Herr Pfarrer, Sie müssen nicht erschrecken – sie läuft!“ Briefe aus dem In- und Ausland erreichen ihn mit der Bitte um Heilung. Blumhardt antwortet; viele Adressaten berichten von Fernheilungen.

    1852 gründet er hier im Kurhaus Bad Boll ein Seelsorgezentrum; es kommen Heilungsuchende aus ganz Europa. Die Gästebücher des Kurhauses enthalten pro Jahr knapp 1.000 Einträge. Menschen aus allen sozialen Schichten suchen Bad Boll auf, wobei Standesunterschiede hier klein geschrieben werden. Auch die Kinder der Gäste und Mitarbeiter kommen zu ihrem Recht und werden zwanglos in den Tagesablauf integriert. Einem vierjährigen Mädchen, das sich während der Abendandacht hinter einer Säule versteckt, ruft Blumhardt „Guguk!“ zu. Dann fährt er in der Bibellesung fort.

    Bad Boll, eine Gebetsheilanstalt? Heilung ist für Blumhardt etwas Unabsichtliches, Sekundäres. Das Primäre und eigentlich Wichtige ist der schmerzliche und befreiende Schritt der Buße, vollzogen im Vertrauen auf Gottes Vergebung. Hier entzündet sich ein geistliches Neuwerden auch bei Menschen, die in Bad Boll nicht geheilt worden sind. Alte Hoffnungsziele werden als nebensächlich erkannt. Das eigene Ich wird nicht mehr ständig umkreist, sondern wird Bestandteil der Hoffnung auf das Reich Gottes.

    Das hat auch Theophil Brodersen, der jüngste Sohn Gottliebins aus ihrer Ehe mit Theodor Brodersen, erfahren. Theophil ist seit dem achten Lebensjahr völlig taub; Gebete und eine ärztliche Behandlung bleiben ohne Wirkung. Für ihn dichtet Blumhardt in Anlehnung an Psalm 62:

    Sei still zu Gott, der wunderbar zu sein
    Noch nicht vergessen hat.
    Harr Seiner fest und glaub’s, dass Er erschein‘,
    Und zeige mit der Tat,
    Wie leicht Ihm’s ist, in allen Dingen
    Das Herrlichste noch zu vollbringen.
    Sei still zu Gott! Sei still zu Gott!
    Es kommt gewiss die Zeit,
    Wie sie verheißen ist.
    Sie kommt, sie kommt, da sich die Herrlichkeit
    In Jesu, unsrem Christ,
    Noch allem Fleisch wird offenbaren,
    Und dann auch du sollst Hilf‘ erfahren.
    Sei still zu Gott!

    Der endzeitliche und zugleich weltweite Zusammenhang, in den Blumhardt das Möttlinger und Bad Boller Geschehen stellt, wird erkennbar. Wenn sich das Wirken des Heiligen Geistes der gestalt in dem kleinen Möttlingen zeigt, dann – so Blumhardt – kann das doch nur der erste Akt sein. Er erwartete, schreibt er im Februar 1844, noch eine Ausgießung des Heiligen Geistes über die ganze Welt. „Diese muss kommen, wenn es mit unserer Christenheit anders werden soll. Ich spüre es, so ärmlich darf’s nicht fortgehen. Die ersten Gaben und Kräfte, ach! Die sollten wieder kommen! Und ich glaube, der liebe Heiland wartet nur drauf, dass wir drum bitten.“

    Die Erweckung, die Heilungen und die großen Hoffnungen seines Vaters haben die Kindheit des Sohnes Christoph bestimmt und ihn zeitlebens geprägt. Früh als Nachfolger ins Auge gefasst, plagen ihn Zweifel, ob er dieses Amt auch im vollmächtigen Sinne werde ausüben können. Etwas ratlos wird er 1869 Vikar und Sekretär seines Vaters. Erst 1872, als Gottliebin Brodersen geb. Dittus im Sterben liegt und die Umstehenden mit ihrer entschiedenen Hoffnung auf Gottes Reich beeindruckt, wird Christoph ganz in die Sache des Vaters hineingezogen. Nach Johann Christophs Tod übernimmt er 1880 die Leitung des Kurhauses.

    Auch in der Zeit des Sohnes kommt es zu Heilungen, wie in der Vitrine des Blumhardt-Zimmers nachzulesen ist. Mit der Zeit hinterfragt er die Stellung seines Vaters zu Kirche und Mission, deren Bedeutung für das Reich Gottes er nicht mehr sehen kann. Zugleich wird der fromme Egoismus der Heilungsuchenden ihm ein Dorn im Auge. 1899 solidarisiert er sich mit den Arbeitern und der SPD und versteht dies als Nachfolge Jesu. Er bekennt sich zur Gleichachtung aller Menschen, auch der Proletarier, die „auf Erden nicht nur geplagte, sondern selige Geschöpfe Gottes sein sollen“.

    Christoph Blumhardt scheidet aus dem Dienst der Evangelischen Landeskirche aus, tritt in die SPD ein und wird 1900 mit großer Mehrheit in den württembergischen Landtag gewählt. Das Plakat zur Landtagswahl ist erhalten. Christoph Blumhardts Konterfei, auf die linke Seite platziert, wird umrahmt von einem Mann mit roter Mütze, der eine rote Standarte trägt mit dem Jahr der Französischen Revolution: „1789“. Dazu heißt es:

    Seitlich von ihm aber steht
    Pfarrer Blumhardt, wie ihr seht.
    Und es ist sein Manifest: Bebel- und auch bibelfest.
    Weil er keine „Ordnungsstütze“, trägt die Jakobinermütze
    Hier der Mann auf seinem Bild
    Mit dem feuerroten Schild.

    Auf einer Reise nach Palästina 1906 erkrankt Christoph an Malaria. Die Krankheit zwingt ihn zum Rückzug in die Stille, in das Bad Boll benachbarte Jebenhausen. Das Kurhaus, bislang im Besitz der Familie Blumhardt, wird 1913 in die Bad Boll GmbH umgewandelt. Nach Christoph Blumhardts Tod 1919 beschließt der engere Freundeskreis, die Herrnhuter Brüdergemeine zu bitten, Bad Boll als Geschenk zu übernehmen und im Blumhardtschen Sinne weiterzuführen.

    Schon der Vater hat darunter gelitten, dass die erwarteten Ereignisse zu seinen Lebzeiten nicht eingetreten sind. Hat er doch gehofft, das große „Rennen und Jagen nach dem Reich Gottes“ noch selbst zu erleben. Als Gottliebin schwer erkrankt, verzweifelt er fast. Da ist es Gottliebin, die ein Gedicht aus dem Krankenhaus schickt, das am Heiligen Abend im Kurhaus vor allen Gästen verlesen wird. Die letzte Strophe lautet:

    Was wir im Glauben hoffen,
    Wird endlich doch gescheh’n.
    Die Türen werden offen;
    Wir werden es noch seh’n,
    Wie durch der Erde Breiten
    Sein Zepter siegreich zieht,
    Bis unser Aug’ vom Weiten
    Ihn herrlich kommen sieht.

    Im Januar 1872 stirbt sie an Magenkrebs.

    Wie verstehen wir denn Gottes Zukunft mit den Menschen? Dass es problematisch ist, die biblisch verheißene Gnadenzeit in einer Zukunft anzusiedeln, die als linear verlaufender Heilsfahrplan gedacht wird, zeigt der Erste Weltkrieg in Christoph Blumhardts letzten Jahren, erst recht die Entwicklung nach seinem Tod 1919. Das erhoffte Rennen und Jagen nach dem Reich Gottes hat nicht eingesetzt. Kriege und Gewaltherrschaft haben stattdessen Millionen von Opfern gefordert.

    Professor Jürgen Moltmann hat dieses lineare Hoffnungsdenken ersetzt, indem er von „messianischen Augenblicken“ spricht, die eine Umkehr ermöglichen. Zukunft muss hier nicht mehr Fortschreibung einer Entwicklung sein, die durch Gesetze und Mächte der Vergangenheit bestimmt wird, sondern sie kann auf neue Weise ins Visier genommen werden. Ein messianischer Augenblick öffnet die Augen der Menschen, etwa für die Tödlichkeit des „Fortschritts“ in den ökonomischen, ökologischen, nuklearen und genetischen Katastrophen unserer Welt. Diese Augenblicke ereignen sich in der Geschichte als Impulse, die Kräfte freisetzen. Sie wirken und verebben wieder; neue messianische Augenblicke werden erhofft. Auch die Herrschaftsansage des „Jesus ist Sieger“, das geistlich-leibliche Neuwerden von Menschen in Möttlingen und Bad Boll, war dann ein solcher messianischer Augenblick. Keine „schöne“ Vergangenheit, mit dem Makel behaftet, dass Blumhardts darauf gegründete Hoffnungen nicht eintraten. Sondern eine Wegmarke, die, wenn man sich an sie erinnert, neue Zukunft eröffnet.


    Vortrag von Dr. theol. Dieter Ising, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, anläßlich der Neueröffnung des Blumhardt-Zimmers im Kurhaus Bad Boll 2010.

    ChristophFriedrichBlumhardt2
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