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    Ein Reisender kehrt heim

    Im Gedenken an Josef Ben-Eliezer, 1929-2013

    von Chris Zimmerman

    Freitag, 5. April 2013

    Verfügbare Sprachen: 한국어, العربية, English

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    „In dieser großen Verwirrung gibt es unschuldige Menschen mit reinen Herzen, die nicht mehr weiterwissen, die erschüttert sind von dem, was sie sehen müssen, die sich in Sorgen und Schmerzen fragen: ‚Woher soll unsere Rettung kommen? Wer wird uns führen und uns durch sein eigenes Leben, durch sein eigenes Handeln ein Beispiel geben? Wem können wir folgen?‘ Jung und Alt suchen mit tiefem Verlangen nach dem wahren Licht und ringen mit ihrem Zweifel.“ – Natan Hofshi (Israelischer Pazifist)

    Als Josef Ben-Eliezer in der Nacht des 22. März an einem schweren Herzinfarkt stirbt, ist seine Familie wie benommen von der Plötzlichkeit seines Todes – und mit ihr hunderte von Brüdern und Schwestern der Bruderhofbewegung in der ganzen Welt. Für den 83-jährigen Josef selbst war es ein gnädiges, schnelles Überschreiten der Schwelle, ein Fallen in die Arme eines Gottes, den er einst verleugnet, später aber so vollkommen in sein Herz geschlossen hatte, dass er noch als alter Mann das Leuchten des neu Konvertierten in den Augen hatte.

    Josef war 1929 in Frankfurt am Main geboren. Zu seinen ersten Erinnerungen gehörte, wie die SA vor seiner Wohnung vorbeizog und sang „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt“. Es war kurz vor der Machtübernahme der Nazis, und Josef war zu klein, um zu begreifen, dass auch sein Blut hier gemeint war. Aber er konnte die entsetzten Gesichter seiner Eltern sehen. Kurz darauf verließ seine Familie Deutschland und siedelte sich im vermeintlich sicheren Polen an. Nur wenige Jahre später wurden sie hier von Hitlers Schergen eingeholt. Mit Stiefeltritten der SS aus ihrem Zuhause gejagt gelang ihnen die Flucht nach Russland, wo sie zusammen mit anderen Juden in Lagern interniert wurden, bevor sie mit falschen Versprechungen dazu gebracht wurden, mit vielen anderes zusammen in einen Güterzug zu steigen, der sie in die eisige Wildnis von Sibirien brachte. Ironischerweise verdankte Josef diesem Betrogen-Werden sein weiteres Leben: Die Familie hatte gehofft, ins besetzte Polen zurückzukehren und wäre wahrscheinlich nach Auschwitz verschleppt worden.

    1943 landete Josef, nach einer Odyssee von Sibirien über Samarkand, Teheran und Karachi, in einem Aufnahmelager für vertriebene Kinder in der Nähe von Haifa. Bis Kriegsende besuchte er die Landwirtschaftsschule einer Zionistischen Siedlungsgemeinschaft. Dort traf er später auch Überlebende aus Lagern wie Bergen-Belsen: Teenager wie er, die aussahen wie Greise.

    Er selbst war noch immer ein Flüchtling in jedem erdenklichen Sinn des Wortes. Wurzellos und elternlos, mit den widersprüchlichsten Ideen und Träumen, die in seinem Kopf umherwirbelten. Nach seiner Muttersprache gefragt konnte er keine eindeutige Antwort geben. Am schlimmsten aber war der Hass, der in seinem Herzen brannte. Gegen die Deutschen, wegen des Holocausts; mehr aber noch gegen die Engländer, weil sie versuchten, die Einwanderung von Überlebenden der Konzentrationslager nach Palästina zu begrenzen.

    Wie andere Juden hatte auch ich mir geschworen, mich nie wieder wie ein Lamm zur Schlachtbank führen zu lassen – zumindest nicht kampflos! Wir lebten in dem Gefühl, in einer Welt voller wilder Tiere zu leben, in der wir nicht würden überleben können, ohne selbst so zu werden wie sie.

    Während der folgenden Jahre diente er kurz in der Hagana, einer paramilitärischen Organisation, die damals für die Errichtung eines israelischen Staates kämpfte. Bei einem Einsatz diente er in einer Einheit, die arabische Dorfbewohner gewaltsam aus Gebieten vertrieb, die für jüdische Siedlungen bestimmt waren. Er wurde Zeuge von gewalttätigen Verhören, Misshandlungen und sogar Morden. Josef war kein Opfer mehr, aber seine neue Position auf der Seite der Mächtigen brachte ihm keinen Frieden. Das Gegenteil war der Fall: Die Erinnerungen an seinen eigenen Leidensweg kehrten mit Macht zurück und Schuldgefühle brachen wie Wellen über ihn herein. Schließlich verließ er die Armee, ein unglücklicher Mensch. Erst wandte er sich vom Judentum ab, dann von Religion überhaupt. Er versuchte, die Welt zu begreifen, indem er das Böse mit dem Verstand analysierte. Aber auch das schien nicht zu helfen.

    Damals vertrat ich den Standpunkt, dass der Glaube an eine höhere Macht einfach Unsinn sei. Nach all dem, was ich erlebt und gehört hatte war ich empört darüber, dass meine Vorfahren so viel Leid über sich gebracht hatten, weil sie an ihrem Glauben an Gott festgehalten hatten.

    Ich sagte mir, es gibt keinen Gott – und ganz sicher keinen menschgewordenen Christus, der mit uns am Kreuz der Welt gelitten hat, auferstanden ist und Leben bringt. Mir erschien es wie ein Wahnsinn, dass man nach all dem, was in seinem Namen verbrochen worden war, besonders an den Juden, aber auch von Christen untereinander, noch immer an die Wirklichkeit eines lebendigen Gottes glauben konnte. Wenn ich damals den Namen „Christus“ hörte, dann lief mir ein Schauder über den Rücken. Für mich bedeutete dieser Name Inquisition, Verfolgung, Lüge und Götzendienst.

    Während der Folgejahre ließ Josefs Suche nach dem Sinn des Lebens und nach einer gerechten Gesellschaftsordnung nie nach. Den Kapitalismus verabscheute er und auch der Zionismus hatte seinen Glanz verloren. Für eine Zeit fühlte er sich zum Sozialismus und Kommunismus hingezogen, auch zu den Schriften von Jean-Paul Sartre. Einige Monate lang lebte er in Paris in einer marxistischen Gemeinschaft. Aber letzten Endes fand er nichts, was die Fragen beantwortet hätte, die ihm unablässig im Kopf herumgingen. Besonders eine Frage brannte mit einer Unerbittlichkeit in ihm, die ihn manchmal in die Verzweiflung trieb: „Warum können Menschen nicht in Eintracht und Frieden miteinander leben?“ Mehr als einmal war er kurz davor, sich  das Leben zu nehmen.

    Er lebte auch mehrere Monate in München, wo er einen Aufmarsch von Alt-Nazis miterlebte und herausfinden musste, dass die Verehrung des „Führers“ blühte und gedieh. Er begann, sich für Esperanto zu interessieren, einer von Intellektuellen in der Nachkriegszeit entwickelten Kunstsprache, deren Vertreter glaubten, eine gemeinsame Sprache würde zukünftige Kriege verhindern können.

    Zum Bruderhof kam Josef 1958. Ausgerechnet hier, in einer christlichen Gemeinschaft, fühlte er sich von dem Gott seiner Vorfahren konfrontiert wie noch nie zuvor. Er kam als überzeugter Atheist und war skeptisch, ob man überhaupt in Gemeinschaft leben kann. Trotzdem fühlte er sich unwiderstehlich angezogen. Im Laufe der Zeit schmolzen seine Argumente und seine Abwehr dahin und zwei Jahre später bekannte er sich zu Christus und bat um die Erwachsenentaufe. Kurz danach schrieb er:

    Josef and Ruth's wedding day

    Im Rückblick wird mir jetzt klar, dass sich mein Herz immer nach Gott gesehnt hat. Ich war so beschämt, als ich gesehen habe, wie groß seine Liebe ist – dass er seinen Sohn um meinetwillen hat kreuzigen lassen! Dass er mich nie verlassen oder aufgegeben hat, sondern dass er mit mir gelitten hat und mir wieder und wieder seine liebende Hand ausgestreckt hat, dass ich verstehen möge, wie groß seine Liebe ist. Ich kann immer noch nicht glauben, wie ich so blind sein und ihn nicht sehen konnte, wo seine Liebe doch so groß ist, sogar für so eine erbärmliche Kreatur wie mich.

    Ich musste durch viele persönliche Krisen hindurch. Manchmal schien mir der Boden unter den Füßen zu schwinden, aber wann immer ich meine eigene Hilflosigkeit am stärksten gefühlt habe, wenn es menschlich gesehen hoffnungslos war, dann konnte ich am deutlichsten fühlen, wie Christus bei mir ist. Er hat mich nie verlassen.

    Es gibt kein Leben, das nicht von Christus kommt! Wir müssen zulassen, dass wir wieder und wieder durch ihn geführt werden indem wir alles von ihm erhoffen und zulassen dass all das, was von uns selbst kommt, stirbt. Und Christus wird uns nicht enttäuschen, auch wenn unser Glaube nicht sehr stark ist.

    Ich kann nur sagen, dass ich mich bei meiner Taufe geschämt habe – aber ich war auch dankbar und voller Freude! Geschämt habe ich mich, weil ich Jesus Christus wieder und wieder von mir gestoßen habe. Aber seine Liebe übersteigt allen menschlichen Verstand. Es war eine riesige Freude für mich, dass dieser Jesus, von dem die Heilige Schrift spricht, heute genauso lebendig ist wie vor 2000 Jahren. Alles, was über seine Größe gesagt wird, ist wahr, aber er ist noch viel größer…

    Josef fügte noch hinzu, dass es die Entdeckung des „echten“ Jesus war, die ihn erkennen ließ, dass man sein Leben ganz real für Liebe und Einheit leben kann.  („Jemand, der sehr wenig zu tun hat mit all der Gewalt, die in seinem Namen verübt wird.“)

    Jesu Worte waren in meinen Ohren „Wie oft wollte ich euch um mich sammeln, und ihr habt nicht gewollt.“ Ich fühlte die Kraft dieser Worte und wusste, dass Menschen aller Nationen, Rassen und Religionen hierdurch vereinigt werden könnten. Es war eine überwältigende Erfahrung, die mein Leben vollkommen umgekrempelt hat, weil ich begriff, dass es die Heilung vom Hass und die Vergebung von Sünden bedeutet.

    Jahrzehnte später bekam Josef Post von einem Mann, dessen Vater durch die Einheit aus seinem Dorf vertrieben worden war, in der Josef zu der Zeit als Soldat gedient hatte. Der Mann hatte Josefs Geschichte gelesen und wollte sich mit ihm treffen. Also machte sich Josef 1997 nicht ohne Befürchtungen, aber auch voll Hoffnung auf Versöhnung auf den Weg nach Israel. Dort traf er den Mann und dessen Vater und bat sie um Vergebung – und sie vergaben ihm.

    Obwohl es nur ein Ereignis eines langen und aktiven Lebens war, kommt in der Tatsache, dass er mit 68 Jahren noch diese Reise unternahm, zum Ausdruck, wie Josef immer wieder von seinem Herzen angetrieben wurde. Er war immer auf der Suche und ermutigte auch andere, sich auf die Suche zu begeben. Nie lehnte er sich zurück und gab sich dem Gefühl hin, er sei „angekommen“. An seiner Seite (oder zu Hause auf ihn wartend) war dabei stets Ruth, seine geliebte Frau, mit der er fünfzig Jahre verheiratet war. Zusammen hatten sie sieben Kinder und einige Enkelkinder.

    Josef and Ruth celebrating their wedding anniversary

    In gewisser Weise war Josef ein Vater für viele andere, die nicht seine leiblichen Kinder waren, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Bruderhöfe. Sein weiser Rat und die Demut, mit der er ihn erteilte, machten ihn zu einem vertrauten Mentor, Ratgeber und Beichtvater für Freunde und Bekannte von den USA über Europa bis in den Nahen Osten. Vor einigen Monaten noch beriet er zwei junge Amerikanerinnen, die für ein Jahr als ehrenamtliche Helfer nach Bethlehem gehen wollten.

    Als er im Juli letzten Jahres seinen 83. Geburtstag feierte reflektierte Josef über sein Leben in der Nachfolge Christi und als Mitglied des Bruderhofs. Unter anderem sagte er:

    Es ist jetzt über fünfzig Jahre her. Wie viele Krisen haben wir durchgemacht – und ich bin immer noch hier! Aber eines Tages werde ich gehen, und dann sagt bloß nicht, dass Josef treu geblieben ist. Das ist er nicht. Aber Gott ist treu geblieben. Er hat mich gehalten, und das ist es, was ich heute unterstreichen möchte. Ich sag‘ euch, es ist das Letzte gewesen, an das ich gedacht habe – nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich mir vorstellen können, in einer christlichen Gemeinschaft zu landen. Aber Gott hat mich geführt. Gott hat mich mit euch zusammengeführt, liebe Brüder und Schwestern, und nun sitzen wir in einem Boot: Arme Menschen, die jeden Tag kämpfen müssen und fehlgehen und wieder aufstehen und sich gegenseitig helfen. Wir können das machen, weil Gott da ist und uns hilft. Deshalb lobe ich Gott, weil er dieses Wunder vollbracht hat. Ich bin eigentlich gar nicht wichtig, aber Gott ist groß. Mögen wir weiterhin Zeugnis ablegen: Nicht unser eigenes, sondern das Zeugnis seiner Herrlichkeit.

    Nach Josefs Tod wurde in einer seiner Taschen ein Stück Papier gefunden. Darauf war der Kriyat Shema geschrieben, ein rituelles hebräisches Gebet aus dem fünften Jahrhundert, das er immer bei sich hatte, egal wo er hinging:

    Hiermit vergebe ich all denen, die mich heute geärgert oder verspottet haben,
    all denen, die sich gegen meine Person versündigt haben,
    gegen mein Eigentum, meinen Besitz oder meine Ehre,
    ob sie unter Zwang, wissentlich und boshaft oder in Unwissenheit gehandelt haben,
    ob durch Worte oder Taten.
    Niemand soll wegen mir Strafe erleiden.

    Josefs Wertschätzung für dieses Gebet spricht Bände, gerade wenn man daran denkt, was er durchleiden musste, vor allem in seiner Jugend. Angesichts seines Verlangens, das ihn zeitweise bis zur Verzweiflung getrieben hat – dass Menschen in Frieden miteinander leben mögen – ist es ein zutiefst persönlicher und gleichzeitig sehr herausfordernder Ratschlag für den Weg in die Zukunft.


    Mehr über den Bruderhof: Über uns

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