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    Ist der „Islamische Staat“ der Beweis, dass Pazifismus falsch ist?

    Aus einem Interview

    von Ron Sider

    Freitag, 13. Februar 2015

    Verfügbare Sprachen: English

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    Christliche Führungspersönlichkeiten haben militärische Maßnahmen gegen den selbsternannten „Islamischen Staat“ (IS) unter Berufung auf die Lehre vom gerechten Krieg unterstützt. Christlichen Pazifisten hingegen ist es schwer gefallen, überzeugende Alternativen vorzubringen – zu einer Zeit, in der es naiv oder sogar kaltherzig erscheinen kann, Gewaltfreiheit zu predigen. Aber stellt die Tradition vom gerechten Krieg ihren Anhängern in solchen Situationen einen Blankoscheck aus? Wir haben mit Ron Sider gesprochen, dem Gründer von Evangelicals for Social Action (Evangelikale für Soziales Handeln), einem entschiedenen Vertreter des christlichen Pazifismus.

    Peter Mommsen: In Ihrem Buch „Nonviolent Action: What Christian Ethics Demands but Most Christians Have Never Really Tried“ argumentieren Sie dafür, dass sowohl die christlichen Verfechter der Lehre vom gerechten Krieg als auch Pazifisten die Verpflichtung haben, Ungerechtigkeit mit gewaltfreiem Widerstand zu begegnen. Können Sie ausführen, was Sie damit meinen?

    Ron Sider: Gewaltfreies Handeln ist eine ethische Forderung, die sowohl an Pazifisten als auch an Christen ergeht, die der Lehre von gerechten Krieg anhängen und in gewissen Situationen militärische Interventionen befürworten. Alle Christen sind berufen, Frieden zu stiften. Aber sowohl Pazifisten als auch Interventionisten haben kaum sorgfältigen, systematisch geplanten Gebrauch von gewaltfreiem Handeln gemacht – auch wenn sich gewaltfreies Handeln immer wieder als effektiv erwiesen hat. Das ist der Kern meiner Botschaft. Gewaltfreies Handeln ist beeindruckend effektiv, wenn man ihm eine Chance gibt. Zum Beispiel hat die polnische Solidarność-Bewegung erfolgreich der Sowjetunion getrotzt.

    Im Laufe des letzten Jahres haben IS-Kämpfer in Irak und Syrien schreckliche Gewalttaten verübt. Die meisten Leute und viele Kirchen glauben, dass gewaltfreie Mittel hier nicht funktionieren werden. Stimmen Sie dem zu?

    Menschen, die sich der Gewaltfreiheit verpflichtet fühlen, haben nicht immer Sofort-Lösungen, um das Chaos zu bewältigen, das unsere Militärpolitik angerichtet hat. Es gibt eine Unmenge von Beweisen, die zeigen, wie in unterschiedlichen Situationen gewaltfreie Strategien verblüffend effektiv waren. Kurzfristig allerdings sind gewaltfreie Handlungen nicht immer und nicht automatisch erfolgreich. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt sieht es unwahrscheinlich aus, dass der IS auf einen gewaltfreien Friedenseinsatz ansprechen würde, oder sogar auf eine große Anzahl von Menschen, die gemeinsam gewaltfrei handeln.

    Einmal abgesehen vom IS, die Idee des gewaltfreien Handelns kommt den meisten Leuten unrealistisch vor, etwa wie der Kinderkreuzzug im Mittelalter.

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    Ein Junge wohnt der Bestattung einer Kämpferin der Frauen-Schutzeinheit bei, einer Miliz von kurdischen Frauen. Die gefallene Kämpferin war bei Kampfhandlungen im Rahmen der Verteidigung der belagerten syrischen Stadt Kobane im November 2014 getötet worden. Foto von Aris Messinis / Getty Images

    Deswegen müssen wir die Menschen informieren! Wir wissen, dass Gewaltfreiheit effektiv ist. Es hat sich immer wieder bewährt, das hat sich besonders in den vergangenen 50 Jahren gezeigt. Und es hat sogar ohne besonders intensive Ausbildung und viel Analyse funktioniert. Ich gebe nicht vor, ein gewiefter Taktiker von gewaltfreien Kampagnen zu sein, aber in meinem Buch kann der Leser eine Erfolgsstory von Gewaltfreiheit nach der anderen lesen.

    Zum Beispiel?

    Wir können bis zu den Juden des ersten Jahrhunderts zurückgehen, die eher sterben wollten als zuzulassen, dass die Standarten römischer Legionen in Jerusalem aufgestellt wurden. Das hat Pontius Pilatus dazu gebracht, die Standarten zu entfernen. Im fünften Jahrhundert ritt Papst Leo I. Attila dem Hunnenkönig und seinen Armeen entgegen und bewegte sie zur Umkehr. Dann gibt es den Waffenstillstand zwischen Argentinien und Chile im 19. Jahrhundert, der durch zwei Bischöfe erreicht wurde, die je auf ihrer Seite den Truppen vorausritten.

    Das 20. Jahrhundert ist voller Beispiele, am bekanntesten ist natürlich Gandhi in Indien und Martin Luther Kings friedliche Bürgerrechtsbewegung in den USA. Aber es gibt weltweit unzählige weitere Beispiele: friedliche Demonstrationen in El Salvador und Guatemala, die dazu beigetragen haben, brutale Diktaturen zu stürzen, eine „gewaltfreie Flotte“ bestehend aus drei Kajaks, drei Kanus und einem Gummifloß, die den Weg eines gigantischen Frachters blockiert haben und mitgeholfen haben, den ständigen Strom von Waffen zwischen den USA und Pakistan zum Erliegen zu bringen, den Alagamar-Landstreit in Brasilien in den späten 1970ern. Die Liste geht immer weiter. Christian Peacemaker Teams hatten wirklichen Erfolg dabei, die Gewalt in Kolumbien zu senken.

    Außerdem gibt es verpasste Gelegenheiten, so wie der Zusammenbruch Jugoslawiens in den frühen 1990er Jahren, der schließlich zu Krieg geführt hat. Gewaltfreie Aktionen wären sehr wirkungsvoll gewesen, wenn damals hochrangige Vertreter der orthodoxen, katholischen und evangelischen Kirchen zusammen in das Konfliktgebiet gekommen wären und gesagt hätten: „Wir kommen hierher im Namen Jesu. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns töten, aber wir stehen zwischen euch und euren religiösen und ethnischen Gegnern.“

    In ähnlicher Weise hätte direktes gewaltfreies Handeln auch bei Robert Mugabe in Simbabwe funktionieren können.

    Okay, aber gibt es keine Ausnahmen?

    Ich beabsichtige nicht, die Leute davon zu überzeugen, dass Gewaltfreiheit immer schnell oder einfach funktioniert. Ich behaupte nicht, dass es in jeder gewalttätigen Auseinandersetzung eine kurzfristige, gewaltfreie Lösung gibt. Mein Argument ist dies: Man schaue sich all die historischen Erfolge von gewaltfreiem Handeln an – trotz der Tatsache, dass wir hier kaum in Zeit, Geld, Forschung oder Strategieentwicklung investiert haben.

    Wenn man das bedenkt, dann ist klar, dass wir alle in allen christlichen Kirchen viel mehr Investitionen in gewaltfreies Handeln fordern müssen, unabhängig davon, ob wir Pazifisten sind oder einen gerechten Krieg für möglich halten. Wir brauchen etwas Vergleichbares zu den Militärakademien – Bildungszentren, an denen wir sorgfältig gewaltfreie Taktiken analysieren können um festzustellen, was funktioniert und was nicht. Im Vergleich zu dem, was wir an militärischen Bildungseinrichtungen haben, haben wir praktisch nichts für gewaltfreies Handeln.

    Ich denke, dass Christian Peacemaker Teams und vergleichbare Einsätze der einzige Weg sind, derartiges zu erreichen. Hier sollte viel mehr investiert werden. Aber es ist auch wichtig, den weiteren Kontext im Auge zu behalten, wie Glen Stassen in seinem Buch Just Peacemaking betont. Sowohl er als auch andere Wissenschaftler – einige davon Pazifisten, andere nicht – haben zeigen können, dass es eine große Bandbreite von gewaltfreiem Handeln gibt, die dazu beitragen kann, Konflikte in der Welt zu lösen. Ich denke, dass eine ehrliche, realistische und komplexe Analyse davon, wie, wann und warum gewaltfreie Taktiken funktionieren, uns helfen wird, besser zu verstehen, wo es weise ist, Zeit zu investieren und sich zu engagieren.

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    Ein Kurdischer Flüchtling in Mursitpinar, Turkey, der vor den Kämpfen um Kobane im Oktober 2014 geflohen war. Fotografie von Jordi Bernabeu Farrús / Wikimedia Commons

    Sie hatten gesagt, dass gewaltfreies Handeln innerhalb der christlichen Ethik geboten ist, egal ob man an einen gerechten Krieg glaubt oder Pazifist ist. Das Vorwort in Ihrem Buch ist von Richard Mouw, dem ehemaligen Präsidenten des Fuller Theological Seminary, der sich als ein „Verteidiger der Lehre vom Gerechten Krieg“ bezeichnet. Wie könnten Kriegsbefürworter und Pazifisten zusammenarbeiten?

    Pazifisten und Anhänger der Lehre vom Gerechten Krieg müssen jede Situation gemeinsam betrachten. Es wird häufig so sein, dass, wenn man die Kriterien des gerechten Krieges anlegt, man zu dem Schluss kommt: „Dieser Krieg sollte nicht sein, diese Invasion sollte nicht stattfinden. Wir müssen eine Alternative finden.“ Es könnte allerdings auch Situationen geben, in denen Christen, die der Lehre vom gerechten Krieg anhängen, zu dem Schluss kommen, dass sie in den Krieg ziehen müssen.

    Aber die Lehre vom gerechten Krieg erfordert es, Krieg als letztes Mittel zu sehen, und bevor nicht alle vernünftigen gewaltfreien Alternativen versucht worden sind, ist Krieg eben nicht das letzte Mittel. Wenn Anhänger der Lehre vom gerechten Krieg nicht bereit sind, alle vernünftigen gewaltfreien Alternativen auszuprobieren, hat die Position, es gäbe einen gerechten Krieg, keine moralische Integrität.

    Gleichermaßen haben Pazifisten kein moralisches Recht vorzugeben, ihr Weg sei besser, solange sie nicht willig sind, dieselben Risiken in gewaltfreiem Vorgehen einzugehen, die Soldaten in der Schlacht eingehen.

    Sie haben vorgeschlagen, dass die Kirche eine massive Investition in gewaltfreies Handeln tätigen soll, indem sie Taktiken erforscht und Einrichtungen schafft, die sie umsetzen. Wie würden Sie auf diejenigen antworten, die sagen: „Moment mal, ist das wirklich die Aufgabe der Kirche?“

    Wie ich schon seit Jahrzehnten sage: Die erste Aufgabe der Kirche ist, Kirche zu sein. Wenn Kirche nicht mehr Kirche ist – ob es um Rassismus geht oder um Gerechtigkeit für die Armen – dann ist es nichts als Heuchelei, der Regierung politische Änderungen vorzuschlagen. Es ist eine Farce, die Regierung von Dingen zu überzeugen versuchen, die wir Christen selbst nicht leben. Unsere erste Priorität ist, Kirche zu sein und die Gerechtigkeit und den Frieden Christi in unserem eigenen Leben umzusetzen.

    Aber wenn wir das tun, werden wir die Aufforderung spüren, anderen zu helfen, und auf diese Weise werden wir nicht nur anderen Leuten über Jesus berichten, wie man ihm folgt und als den Herr und Retter annimmt, der er ist, sondern in seinem Namen und motiviert durch seine Liebe werden wir daran arbeiten, die Gesellschaft zu ändern. Christus hat uns berufen, Friedensstifter zu sein und das Evangelium des Friedens in jeder möglichen Weise zu verbreiten. Hier müssen wir unsere Energie und unsere Ressourcen einsetzen.

    Aus einem Interview mit Peter Mommsen vom 9. Oktober 2014


    Was ist ein gerechter Krieg?

    Die Lehre vom gerechten Krieg wird von vielen christlichen Kirchen akzeptiert. Wie im katholischen Katechismus ausgeführt, ist es erforderlich, dass eine Reihe von „strengen Kriterien“ erfüllt sein müssen, bevor ein Krieg legitim ist.

    • Der Schaden, der der Nation oder der Völkergemeinschaft durch den Angreifer zugefügt wird, muss sicher feststehen, schwerwiegend und von Dauer sein.
    • Alle anderen Mittel, dem Schaden ein Ende zu machen, müssen sich als undurchführbar oder wirkungslos erwiesen haben.
    • Es muss ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestehen.
    • Der Gebrauch von Waffen darf nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel. Beim Urteil darüber, ob diese Bedingung erfüllt ist, ist sorgfältig auf die gewaltige Zerstörungskraft der modernen Waffen zu achten. (Katechismus der katholischen Kirche, Abs. 2309)

    Obwohl die Lehre vom gerechten Krieg mindestens zu Augustinus von Hippo (AD 354-430) zurückgeht, war sie nicht die Lehre der frühen Kirche. Nahezu alle prominenten Christen der ersten Jahrhunderte haben die Anwendung von tödlicher Gewalt für unter allen Umständen unzulässig erklärt.

    Photograph of a sad boy by Aris Messinis / Getty Images
    Von RonSider Ronald J. Sider

    Ronald J. Sider ist ein bekannter evangelikaler Redner, Lektor und Autor von über dreißig Büchern. Er hat an der Yale University in Geschichte promoviert und ist Präsident der Gruppe Evangelicals for Social Action.

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