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    a man eating bread in a field surrounded by palm trees: André Chung, Cane Cutter, Havana, Cuba

    Das ist mein Leib

    Von Essen und Freiheit

    von Edwidge Danticat

    Dienstag, 2. Juli 2019

    Verfügbare Sprachen: 한국어, français, English

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    Wenn eine Freundin von mir nach Ansicht ihres Vaters ein wenig zu viel aß, pflegte er zu ihr zu sagen, dass sie sich mit den Zähnen ihr eigenes Grab schaufelte. Das ist kein besonders origineller Gedanke. Vor ihm haben ihn schon andere geäußert und werden dies auch künftig tun. Meine Freundin und ich antworteten ihrem Vater und allen anderen, die ihn, vielleicht nicht mit denselben Worten, so doch mit derselben Haltung, nachahmten, für gewöhnlich: Das wissen wir.

    An dieses angeblich mit dem Mund geschaufelte Grab muss ich oft denken, wenn ich Menschen begegne, für die Essen kein Genuss ist, Menschen, für die es Essen nicht im Übermaß gibt, Menschen, denen Essen als Gefahr erscheint. So wird zum Beispiel auch in den Migranten-Auffangzentren, die ich besuche, häufig über das Essen gesprochen. Viele Insassen sehen in dem abscheulichen Essen, das man ihnen zu den unpassendsten Zeiten vorsetzt – das Frühstück manchmal um vier Uhr morgens und das Abendessen um vier Uhr nachmittags – nur eine weitere Form der Bestrafung.

    Einige mussten auf dem Boden schlafen, aber die quälendste Demütigung war das Essen.

    Das Essen wäre weder „oben noch unten drinnen geblieben“, sagte vor vierzehn Jahren eine Haitianerin zu mir, die ich in einem Hotel in Südflorida kennenlernte, das in ein Auffanglager für mit Booten aus Haiti geflohenen Frauen und Kinder umfunktioniert worden war. Die Haitianerinnen erbrachen das Essen oder bekamen Durchfall davon. Sie hausten zu sechst in einem Hotelzimmer, einige mussten sogar auf dem Boden schlafen. Die quälendste Demütigung aber war das Essen. Diese Frauen hatten nicht nur keine Kontrolle darüber, was sie ihrem Körper zuführten, sondern wurden von diesem Essen sogar krank, was sie noch mehr entmenschlichte.

    Anfang der achtziger Jahre nahmen mich meine Eltern als Teenager häufig mit, wenn sie mit ihrer Diakoniegruppe haitianische Flüchtlinge und Asylbewerber in einem Auffanglager in der Nähe der Schiffswerft in Brooklyn, New York, besuchten. Auch dort kam das Thema Essen zur Sprache. Die Männer aus Haiti hegten damals den Verdacht, dass Hormone im Essen des Auffangzentrums die Ursache für eine als Gynäkomastie bekannte Brustvergrößerung waren, unter der sie litten. „Sie versuchen, aus uns Frauen zu machen, damit wir fügsamer werden“, hatte ein älterer Mann bei einem unserer Besuche im Brooklyner Auffangzentrum zu meinem Vater gesagt.

    Im Oktober 1987 reichten dreißig haitianische ehemalige Insassen des Krome-Auffangzentrums in Miami eine Zivilklage gegen die US-Regierung ein, in der sie den Vorwurf erhoben, während ihrer Haftzeit in Krome an Gynäkomastie erkrankt zu sein. Abgesehen davon, dass sie Haitianer und Lagerinsassen waren, bestand die einzige Gemeinsamkeit zwischen den in Miami und Brooklyn inhaftierten Männern im Anstaltsessen.

    Der Prozess enthüllte, dass die Gynäkomastie durch den im Auffanglager erfolgten Einsatz von Insektiziden, insbesondere eines für Tiere bestimmten Insektengifts, sowie von Kwell, einem starken Krätze- und Läusemittel, das den inhaftierten Haitianern zur täglichen Verwendung als Bodylotion gegeben wurde, verursacht worden sein könnte. Andere Untersuchungen stellten hingegen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Ernährung und Gynäkomastie fest, und die Haitianer blieben der Überzeugung, dass das Essen im Auffanglager dabei eine Rolle spielte. Trotzdem erklärten die Geschworenen die Regierung für nicht haftbar.

    a man eating bread in a field surrounded by palm trees: André Chung, Cane Cutter, Havana, Cuba

    André Chung, Zuckerrohrschneider, Havanna, Kuba Nachgedruckt mit Genehmigung von Andre Chung

    Mahlzeiten, die in Verzweiflung oder Bedrängnis eingenommen werden, bleiben naturgemäß besonders in Erinnerung. Die Wahl der Henkersmahlzeit weckt so großes Interesse, dass sie häufig zusammen mit den letzten Worten des Sterbenden auf der postum abgehaltenen Pressekonferenz genannt wird. Die bekannteste und zugleich Urururahn aller letzten Mahlzeiten ist das letzte Abendmahl Jesu. Es ist nicht überliefert, was beim letzten Abendmahl noch verzehrt wurde außer ungesäuertem Brot und Wein, die Jesus seinen Jüngern – auch jenen, die abschwören und ihn verraten würden – mit den Worten darbot: „Nehmt, esst; das ist mein Leib.“ Und später: „Trinkt; das ist mein Blut.“

    Viele der haitianischen Männer, denen mein Vater und seine Kirchenfreunde damals im Brooklyner Auffangzentrum begegneten, waren religiös. Genau wie einige der Frauen, die ich Jahre später besuchte und seitdem besuche, wann immer mir der Zutritt zu Migranten-Auffangzentren gestattet wird. Viele der inhaftierten unbegleiteten Kinder tragen neben anderen kostbaren Amuletten ein Kreuz oder eine Christophorusmünze, die sie auf der anstrengenden Reise beschützen sollen. Vom heiligen Christophorus heißt es, dass er ein kleines, schutzloses Kind über einen reißenden Fluss getragen habe, ein Kind, das irgendein sich in Not befindendes Kind gewesen sein könnte, das Kind eines Fremden, das sich als Jesuskind herausstellte. Der heilige Christophorus war auch ein Migrant, wurde gefangen genommen und schließlich hingerichtet.

    Viele Kinder, die heute Wüsten und reißende Flüsse durchqueren, brechen mit etwas sorgfältig zubereitetem Proviant auf, der sie zumindest für einen Teil des Weges versorgen soll. Für den Rest der Reise müssen sowohl ihre Eltern als auch die Kinder darauf vertrauen, dass sie, um zu überleben, irgendwie, durch Kauf oder Spende, etwas Essbares und Wasser auftreiben können. Dazu bedarf es eines ebenso starken Glaubens wie für die auf dem Sockel der Freiheitsstatue eingravierte Hoffnung, am Tor ein goldenes Licht vorzufinden, einem Tor, das den „ geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“ nach wie vor offen steht.

    a boy in an open-back bus surrounded by many people: Carl Juste, Crushed, Port-au-Prince, Haiti

    Carl Juste, Eingepfercht, Port-au-Prince, Haiti Nachgedruckt mit Genehmigung von Carl Juste

    Eine der Methoden, mit denen meine Migranteneltern versuchten, meinen Brüdern und mir die amerikanische Kultur schmackhaft zu machen war die, uns an den Freitagabenden zwischen Pizza, Brathähnchen und Hotdogs wählen zu lassen, während wir an allen anderen Abenden der Woche Reis und Bohnen, Kochbanane und andere haitianische Speisen verzehrten. Ich erwähnte ihnen gegenüber nie, dass ich diese „amerikanischen“ Sachen bereits täglich zum Mittag in der Schule aß, da ich befürchtete, dass dann auch meine Eltern denken würden, dass ich dabei war, mir mit den Zähnen mein eigenes Grab zu schaufeln.

    Man darf nicht allzu ausgehungert, nicht zu verzweifelt, nicht zu leer wirken.

    Meine Mutter sagte zu meinen Brüdern und mir gern: Sak vi dpa kanpe. („Leere Säcke stehen nicht.“) und: Se sa k nan vant ou ki pa w. („Nur was in deinem Bauch ist, gehört dir.“) Worauf wir dieselbe Antwort gaben: Das wissen wir. Sie sagte diese Dinge oft zu uns, bevor wir jemanden zum Mittag oder Abendessen besuchten. Was uns diese mütterlichen Weisheiten und häuslichen Sprüche vermitteln sollten war der Rat, niemals jemanden allzu hungrig zu besuchen. Denn man konnte nie wissen, wann es so weit sein würde, dass einem etwas zu essen angeboten würde, und man darf nicht allzu ausgehungert, nicht zu verzweifelt, nicht zu leer wirken, wenn es soweit ist. Und falls man zufällig kommt, wenn gerade eine Mahlzeit eingenommen wird, zu der man nicht zuvor eingeladen wurde, muss man das angebotene Essen ablehnen, selbst wenn man vor Hunger fast umkommt. Andernfalls würde es so aussehen, als ob man absichtlich zu dieser Mahlzeit gekommen ist, wodurch man berechnend und gierig, visye, erscheinen würde.

    An all diese Dinge muss ich auch denken, wenn ich von Menschen höre, die über ihren Mageninhalt nicht frei bestimmen können, Menschen, die vollständig davon abhängig sind, von anderen ernährt zu werden, Menschen, die keine andere Wahl haben, als Essen zu sich zu nehmen, das sie verabscheuen, und Menschen, die gegen ihren Willen ernährt werden.

    Lakhdar Boumediene war von 2002 bis 2009 im Gefangenenlager in Guantanamo auf Kuba inhaftiert. 2017 schrieb er in der US-Zeitschrift New Republic über seinen dortigen Hungerstreik:

    Ich werde manchmal gefragt, warum ich in den Hungerstreik trat. Wollten Sie sterben? Hatten Sie aufgegeben? Die Antwort lautet: Nein. Ich hörte nicht auf zu essen, weil ich sterben wollte, sondern weil ich nicht weiterleben konnte, ohne irgendetwas zu tun, um gegen die Ungerechtigkeit meiner Behandlung zu protestieren. Sie konnten mich ohne Grund und ohne die Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen, einsperren. Sie konnten mich foltern, mir den Schlaf rauben, mich in eine Isolationszelle sperren, jeden einzelnen Aspekt meines Lebens kontrollieren. Aber sie konnten mich nicht zwingen, ihr Essen hinunterzuschlucken.

    Im Juli 2013 erklärte sich der als Mos Def bekannt gewordene Rapper und Aktivist Yasiin Bey bereit, auf die gleiche Weise zwangsernährt zu werden, wie die sich in Guantanamo im Hungerstreik befindlichen Gefangenen. Bey wurde auf einem speziell dafür vorgesehenen Stuhl fixiert, der einem elektrischen Stuhl glich. Seine Hände und Füße sowie sein Kopf wurden festgeschnallt. Dann wurde ihm ein transnasaler Schlauch durch die Nase, den Rachen hinunter bis in den Magen geschoben, eine Methode, die vom US-Militär als Sondenernährung bezeichnet wird. Während sich Bey auf seinem Stuhl – mit aller Kraft – wand und krümmte, liefen ihm Tränen über das Gesicht. Er hustete. Er stöhnte. Er flehte die „Wärter“ an aufzuhören, die sich wiederholt mit dem Gewicht ihrer Körper gegen Beys Brust und seinen Magen pressten.

    Er flehte sie an: „Bitte nicht, bitte nicht.“

    Nach ungefähr einer Minute wand er sich und rang so stark, dass der Schlauch herausrutschte. Die Wärter nahmen ihn in den Würgegriff, um ihn besser festhalten zu können, und hörten erst auf, als er in seinem eigenen Namen, als Yasiin Bey, sprach und sagte: „Ich bin es. Bitte hört auf. Ich kann nicht mehr.“ Dann brach er zusammen und weinte.

    Wäre Bey ein echter Gefangener gewesen, hätten die Wärter nicht aufgehört, bis sie die Zwangsernährung beendet hätten. Gefangene, die sich in Guantanamo im Hungerstreik befanden, wurden auf diese Weise zwei Mal täglich jeweils zwei Stunden lang ernährt. Danach wurde ihnen eine Maske über den Mund gestülpt, bis ihr Körper die Flüssignahrung, zumeist der Marke Ensure, verdaut hatte. Sobald sie wieder in ihren „trockenen” Zellen waren, die so hießen, weil es in ihnen kein Wasser gab, wurden sie engmaschig beobachtet um zu kontrollieren, ob sie sich übergaben. Wenn sie die Nahrung erbrachen, kamen sie zurück auf den Zwangsstuhl. Verständlicherweise urinierten oder koteten viele Gefangene auf dem Stuhl ein. Die Ernährungssonde erschwerte das Atmen. Gefangene, die während des muslimischen Fastenmonats Ramadan fasteten, wurden vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zwangsernährt. Zu Beginn dieses Jahres traten Insassen von Migranten-Auffangzentren in Texas, Miami, Phoenix, San Diego und San Francisco in den Hungerstreik und wurden auf Anordnung eines Bundesrichters mit Nasensonden zwangsernährt. Nach Aussagen von Angehörigen führte die Zwangsernährung zu ständigem Erbrechen und Nasenbluten.

    two people sifting grain in a dark room lit by sun rays: Carl Juste,  A Day’s Work, Port-au-Prince, Haiti

    Carl Juste, Arbeitsalltag, Port-au-Prince, Haiti Nachgedruckt mit Genehmigung von Carl Juste

    Wenn jemand unter mysteriösen Umständen aus dem Leben scheidet, wenn jemand plötzlich und ohne vorherige Anzeichen wie die einer Krankheit stirbt, sagen die Älteren in meiner Familie, dass er „gegessen“ wurde. Yo mange li. Sie haben ihn gegessen. Sie haben sie gegessen. Bei den yo („sie“), die ihn oder sie aßen, handelt es sich häufig um einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen mit böser Gesinnung, die eine zerstörerische Kraft eingesetzt haben, um einen anderen Menschen aus der Ferne zu töten. Wir könnten uns selbst nie freiwillig anbieten, auf diese Weise gefressen zu werden, es sei denn wir sind so nobel, uns aufzuopfern, oder wenn wir denken, keine Wahl zu haben.

    Das ist mein Leib, das ist mein Blut, das ist mein Sohn, das ist meine Tochter, das ist meine Hoffnung, das ist mein Traum.

    Anfang der neunziger Jahre, bevor die US-Marinebasis in Guantanamo auf Kuba zu einem Militärgefängnis für die unbefristete Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen wurde, diente sie als Lager für siebenunddreißigtausend haitianische Asylbewerber, die von der US-Küstenwache auf hoher See abgefangen worden waren, nachdem Haitis erster demokratisch gewählter Präsident Jean-Bertrand Aristide durch einen Militärputsch gestürzt worden war. Und da HIV-positive Migranten zu jener Zeit nicht in die Vereinigten Staaten einreisen durften, wurden HIV-infizierte Asylbewerber aus Haiti in Guantanamo für einen Zeitraum festgehalten, der sich ebenfalls wie eine Ewigkeit angefühlt haben muss. So begannen mehr als zweihundert HIV-positive Haitianer unter Führung der haitianischen Politaktivistin und zweifachen Mutter Yolande Jean am 23. Januar 1993 einen Hungerstreik, der 90 Tage dauern sollte. Yolande Jean erklärte damals gegenüber amerikanischen Journalisten: „Wir haben den Hungerstreik begonnen, damit dieser Körper zugrunde gehen und die Seele sodann zu Gott kommen kann. Ich will mich selbst töten, damit meine Brüder und Schwestern leben können.“

    In einem Brief, der an ihre Familie und insbesondere an ihre Söhne Hill und Jeff gerichtet war, schrieb Yolande Jean 1993 während ihres Hungerstreiks in Guantanamo Bay:

    An meine Familie,
    rechnet nicht mehr mit mir, denn ich habe mich dem Kampf für das Leben hingegeben … Hill und Jeff, Ihr habt keine Mutter mehr. Wisst, dass Ihr keine schlechte Mutter habt, das Leben hat mich nur mit sich fortgenommen. Lebt wohl, meine Kinder. Leb wohl, meine Familie. Wir werden uns in einer anderen Welt wiedersehen.

    Yolande Jean überlebte, doch die Hälfte der HIV-positiven Hungerstreikenden starb, nachdem sie schließlich freigelassen worden waren.

    Wie viele von uns hätten den Mut, einen solchen Brief zu schreiben? Und wie viele Mütter wird es noch geben, die einen solchen Brief schreiben oder beinahe schreiben müssen. Wie viele müssen noch sagen: Das ist mein Leib, das ist mein Blut, das ist mein Sohn, das ist meine Tochter, das ist meine Hoffnung, das ist mein Traum, das war mein Leben, das ist es, was mein Leben hätte sein sollen, das ist es, wovon ich dachte, dass es mein Tod sein würde? Wie viele von uns müssen diese Fürbitten noch vortragen, diese Gebete, diese Klagen und diese Trauergesänge, bevor wir zur Kommunion an den Tisch geführt werden, und in Frieden sitzen und essen dürfen?


    Aus dem Englischen übersetzt von Natalie Krugiolka.

    Von EdwidgeDanticat Edwidge Danticat

    Edwidge Danticat ist Autorin zahlreicher Bücher, einschließlich des in Kürze erscheinenden Erzählbandes Everything Inside (Knopf, August 2019). Sie wurde 2009 mit der MacArthur Fellowship und 2018 mit dem Neustadt International Prize for Literature ausgezeichnet.

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